Zur falschen Zeit am falschen Ort? Administrative Ungleichbehandlung in der deutschen Justiz und Verwaltung

Wie in Ämtern, Behörden und Gerichten in den einzelnen Bundesländern und Kommunen über Anliegen von Personen mit Migrationshintergrund entschieden wird, hängt in erheblichem Maße von regionalen politischen Bedingungen sowie der politischen Einstellung der entscheidenden Personen ab. Gleiche Anliegen von Personen mit identischer Rechtsstellung würden im bundesweiten Vergleich zum Teil erheblich unterschiedlich entschieden. Das ist das Ergebnis einer Analyse von Forscher:innen des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality” der Universität Konstanz.

Zusammenfassung

Deutschland steht, wie andere Staaten auch, vor der Herausforderung, dass politische und gesellschaftliche Präferenzen der Bevölkerung regional stark variieren. Der Föderalismus gilt oft als geeigneter Ansatz, um mit dieser Heterogenität umzugehen. Unsere Forschung identifiziert jedoch eine problematische Seite dieses Organisationsprinzips: die administrative Ungleichbehandlung von Migrant:innen in Bundesländern und Kommunen. Dieses Paper erörtert, inwiefern administrative Ungleichheit den Gleichbehandlungsgrundsatz untergräbt und so den liberalen Rechtsstaat schwächt. Anhand von Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen zu Asylgesuchen, Einbürgerungen und Sanktionen zeigen wir die administrative Ungleichbehandlung an Behörden und Gerichten auf. Das Paper schließt mit Empfehlungen zu deren Abbau.

Ergebnisse und politische Implikationen

Ausgangspunkt der Analyse sind verschiedene Projekte, im Rahmen derer die Forscher:innen um Gerald Schneider, Professor für Internationale Politik an der Universität Konstanz, die administrative Ungleichbehandlung von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft und Angehörigen von Minderheiten in Deutschland untersuchen. Administrative Ungleichbehandlung meint dabei die unterschiedliche Beurteilung gleicher Anliegen von Personen mit identischer Rechtsstellung durch Ämter, Behörden oder Gerichte.

Für das Paper “Zur falschen Zeit am falschen Ort? Administrative Ungleichbehandlung in der deutschen Justiz und Verwaltung”, das wir zusammen mit dem Exzellenzcluster The Politics of Inequality der Universität Konstanz veröffentlichen,  betrachteten die Wissenschaftler:innen bundesweit die Entscheidungen der Außenstellen und Ankunftszentren des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), der 48 Verwaltungsgerichte, der Jobcenter sowie auf Kreisebene der Einbürgerungsbehörden.

Dabei stellten sie erhebliche regionale Unterschiede bei Entscheidungen über Asylgesuche, Sanktionsmaßnahmen im Bürgergeldbezug sowie – vor der Revision des Staatsbürgerschaftsrechts im Sommer 2024 – in Fragen der doppelten Staatsangehörigkeit fest, die auf unterschiedliche administrative Praktiken und auch auf variierende rechtliche Auslegungen hinweisen.

Zurückzuführen seien die festgestellten auffälligen Differenzen in administrativen und richterlichen Entscheidungen z. B. bei Asylgesuchen in erheblichem Ausmaß auf extra-legale Faktoren wie die Einstellung der Bevölkerung zu Migration sowie die politischen Einstellung der Behörden-Mitarbeiter:innen. Hinzu komme, dass eine ausgrenzende, migrationsfeindliche Medienberichterstattung diskriminierende Tendenzen verstärkt.
Neben einzelnen Zuständigkeitskonzentrationen spielten für die Frage des Ausmaßes der Ungleichbehandlung dabei auch Ermessensspielräume eine Rolle, wie sie in Hinblick auf Sanktionierungen im Bürgergeldbezug oder bis zum Sommer 2024 noch in Fragen der Staatsbürgerschaft und Mehrstaatigkeit existieren bzw. existierten. Die administrative Ungleichbehandlung sei vor allem in jenen Politikbereichen eklatant, in denen die regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften über keinen Ermessensspielraum im Vollzug bundesstaatlicher Gesetze verfügen. Dies ist etwa bei der Bearbeitung von Asylgesuchen der Fall, bei denen das Völker- und Europarecht sowie das Asylgesetz den verbindlichen Entscheidungsrahmen für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) setzen.

Wenn bundesstaatliche Normen so unterschiedlich vollzogen werden, dass dabei administrative Ungleichheit entsteht, würden Föderalismus und Dezentralisierung – Organisationsprinzipien, die die Anpassung von Politikgestaltung an regionale Unterschiedlichkeiten ermöglichen und die Effizienz von Politikgestaltung steigern sollen – zum Problem, so die Autor:innen des Papers.

Handlungsempfehlungen

Um das Problem der administrativen Ungleichbehandlung in den Griff zu bekommen, formulieren die Autor:innen erste Handlungsempfehlungen:

  • Erhebung systematischer Statistiken über den dezentralen Vollzug von Bundesgesetzen durch die Bundesbehörden
  • Veröffentlichung detaillierter Jahresberichte der Vollzugsorgane zu ihrem Entscheidungsverhalten nach vorgegebenen Erhebungskriterien
  • Ziehen regelmäßiger Stichproben zum Entscheidungsverhalten einzelner Vollzugsorgane und Personen mit hervorgehobener Entscheidungskompetenz für Verfahren, die ein Diskriminierungspotential aufweisen und bei denen Vollerhebungen zu aufwändig wären durch Evaluationsagenturen
  • Bearbeitung von Entscheidungsfällen, bei denen große Unklarheit herrscht und die mit beträchtlichen Auswirkungen für die betroffenen Personen verbunden sind, von grundsätzlich mindestens zwei zufällig einander zugeordneten Verwaltungsmitarbeitenden bzw. Richter:innen; bei Uneinigkeit ggf. Hinzuziehen einer dritten Person mit Entscheidungsbefugnis
  • Schaffung einheitlicher und auch nach außen kommunizierter Orientierungshilfen und Dienstanweisungen für Mitarbeiter:innen v. a. in Bereichen mit großem Ermessensspielraum um Entscheidungen transparenter und weniger anfällig für diskriminierendes Verhalten zu machen1

Neben der Sicherstellung der Umsetzung geltenden Rechts sowie der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien bedürfe es angesichts der Befunde aber auch einer den gegenwärtigen Herausforderungen angemessenen Debatte über die Ausgestaltung des Föderalismus im konkreten Politikfeld. Das richtige Spannungsverhältnis zwischen den Prinzipien Vielfalt und Einheit – so der Politikwissenschaftler Roland Sturm – zu finden „ist eine sich immer wieder aufs Neue stellende politische und gesellschaftliche Aufgabe“.2

Hintergrundinformationen zur Erhebungsmethode
Die Veröffentlichung des Policy Papers „Zur falschen Zeit am falschen Ort? Zur falschen Zeit am falschen Ort? Administrative Ungleichbehandlung in der deutschen Justiz und Verwaltung” erfolgt in Zusammenarbeit zwischen dem Exzellenzcluster „The Politics of Inequality” der Universität Konstanz und dem Berliner Think-Tank Das Progressive Zentrum. Die Ergebnisse basieren auf Daten, die weder öffentlich zugänglich noch Teil der amtlichen Statistik sind. Sie wurden durch die Forscher:innen bei den Zweigstellen des BAMF, den Landesjustizministerien und der Bundesagentur für Arbeit eingeholt bzw. bei den Landesämtern für Statistik zum Teil käuflich erworben.


  1. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge(BAMF) hat etwa Dienstanweisungen formuliert,um seine Entscheidungspraxis bundesweit zuvereinheitlichen. Auf der Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzeshat Pro Asyl erreicht,dass das BAMF diese Richtlinien teilweise zurVeröffentlichung freigegeben musste. https://www.asyl.net/recht/gesetzestexte/weisungen/dienstanweisung-asyl-da-asyl
  2. Roland Sturm 2013. Demokratie als Leitgedankedes deutschen Föderalismus. Informationen zurpolitischen Bildung. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/foederalismus-in-deutschland-318/159332/demokratie-als-leitgedanke-des-deutschen-foederalismus/

Autor:innen

Gerald Schneider ist Professor für Internationale Politik an der Universität Konstanz und Principal Investigator am Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“.
Maren Lüdecke ist Doktorandin an der Graduate School of Social and Behavioral Sciences und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz im Projekt „Administrative Ungleichheit: Ausländische Staatsbürger in Deutschland (AdmIn)“ des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“.
Stefanie Rueß ist Doktorandin an der Graduate School of Social and Behavioral Sciences und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz im Projekt „Vorurteile und Stereotypisierungen in Jobcentern?“.

Pressekontakt

Maria Menzel-Meyer

Leitung Strategische Kommunikation

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