Ode an die Selbstkritik – für die demokratische Resilienz

Überschwänglich inszenierte Selbstkritik ist lächerlich, mangelndes Fallibilitätsbewusstsein und der Glaube an die eigene Unfehlbarkeit gefährlich. Demokratien haben kritische Selbstreflexion institutionalisiert und täten gut daran, ihr mehr Raum zu geben – um besser zu werden und Vertrauen zu stärken.

Schon als Kind mochte ich Reime und Gedichte. Einige wenige konnte ich schon in jungen Jahren auswendig. Das waren in erster Linie nicht die, die ich in der Schule lernen musste, sondern die, die ich irgendwo aufschnappte und lernen wollte. In aus meiner Sicht passenden Situationen trug ich sie spontan vor, weil ich sie schlicht für den treffendsten Kommentar hielt – worauf Gedichtliebhabende mit ähnlichem Humor gratulierend lachten, während andere verärgert, genervt oder einfach befremdet reagierten. Eines dieser Gedichte ist die Selbstkritik von Wilhelm Busch – ein ironisches Stück, das überschwänglich selbstkritische Äußerungen als sozial-strategisches Manöver enttarnt. Man könnte auch sagen: ein gutgelauntes Gedicht, das mangelnde Authentizität als lächerlich brandmarkt. 

Heuchlerische Selbstkritik ist äußerst unangenehm – weil sie meist darauf hindeutet, dass die sich darstellende Person überhaupt nicht zu einer ernsthaften selbstkritischen Äußerung in der Lage ist. In der Politik ist Selbstkritik eine schwierige Angelegenheit: Äußert man als Politiker:in zu viel davon, wirkt man womöglich unsouverän, führungsschwach, lässt dem politischen Gegner viel Angriffsfläche und die Bürger:innen an der eigenen orientierungsstiftenden Kraft zweifeln. Äußert man hingegen kaum oder keine selbstkritischen Worte, kann das arrogant und uneinsichtig wirken – und zudem den Eindruck erwecken, man halte nur eine Art für die richtige: die eigene.

Kein move, sondern authentisch – und deshalb stark

Fallibilitätsbewusstsein – also zu wissen, dass man irren kann – ist ein genuin demokratisches Merkmal. Es geht der Selbstkritik praktisch voraus. Diktatoren und Demagoginnen hingegen werden Sie niemals sagen hören: „Verzeihung, ich habe mich geirrt. Mein Mitbewerber hatte recht.” Vor Kurzem erschien im ZDF die frontal-Dokuserie „Aufstieg und Krise der Grünen”. Der Kölner Stadtanzeiger beschrieb den Beitrag mit den Worten: „Werbung in eigener Sache machen die Grünen in dieser Dokumentation beim besten Willen nicht: In einem neuen ZDF-Dreiteiler setzen namhafte Parteigrößen auf Selbstkritik statt Eigenlob.“ Ob die Autorin das Ganze für gut bzw. gelungen hält oder nicht, bleibt leider ihr Geheimnis. Auch wer die Serie nicht gesehen hat, kennt jedoch vermutlich Ricarda Langs neuen Kommunikationsstil nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundesvorstand: pointiert, selbstkritisch, humorvoll, direkt und ehrlich. Das ist kein move, wie ihn Wilhelm Busch 1874 lyrisch verlachte, sondern schlichtweg authentisch und deshalb stark. 

Eine der langweiligeren Formen der politischen Selbstkritik ist die Nachwahl-Binse „Wir haben den Wählern nicht gut genug vermitteln können, welche Lösungen wir bereithalten” aka wir haben ein Tiptop-Angebot, nur wussten zu Wenige leider davon. Interessanter wird die Selbstprüfung und Fehlereinsicht zum Beispiel bei der Frage der Mitverantwortung für den Aufstieg der AfD. Hier sind dieser Tage wesentlich mehr selbstkritische und nachdenkliche Töne zu vernehmen, als noch vor wenigen Jahren.

Öffentlich klar vernehmbare Beispiele für selbstkritische Reflexion des eigenen Handelns oder häufiger noch der eigenen Parteirolle, sind mir spontan sogleich auch von CDU- und SPD-Politiker:innen mehrfach bekannt, z. B. Daniel Günther oder Lars Klingbeil. Dabei ist Selbstkritik nicht mit Kritik zu verwechseln: Wer in der Lage ist, seine Parteifreunde oder die Parteispitze mit Verve zu kritisieren, ohne dabei selbst Verantwortung anzuerkennen oder die eigene Position infrage zu stellen, hat dadurch noch kein Ambivalenzverständnis bewiesen.

Immer beide demokratischen Arme trainieren

Interessanter als die Fähigkeit des Individuums zur Selbstkritik, zu der ja auch eine große Portion politische Kommunikation und Strategie gehören, finde ich aber die Frage, wie viel Reflexion in einem politischen System selbst angelegt ist. Wie viel Lernfähigkeit wird aktiv gefördert? Demokratien halten mehrere Instrumente zur kritischen Selbstreflexion bereit, die Extremisten stets ein Dorn im Auge sind – darunter die freie Presse, eine kritische Zivilgesellschaft, die Gewaltenteilung, eine Amtsbegrenzung, Enquête-Kommissionen, Regierungsbefragungen und Bürgerräte. Eine lernende Demokratie ist eine resilientere Demokratie.

Apropos Resilienz: Unsere Demokratie ist gerade arg damit beschäftigt, ihre eigene Wehrhaftigkeit zu überprüfen. Gründe hat sie dafür genug – im Inland (Aufstieg der rechtsextremen AfD) wie auch im Ausland (Abbau der langlebigsten Demokratie der Welt durch Donald Trump und sein Kabinett). Inmitten engagierter und wichtiger Verteidigungsbestrebungen für die Demokratie bleibt jedoch zu selten Raum für … genau: Selbstkritik! Zwar feiert die überragende Mehrheit der Menschen die Demokratie in der Theorie, ganz praktisch sind jedoch immer mehr Menschen ziemlich unzufrieden mit ihr. Demokratien existieren immer als Prozess; sie sind reformoffene Systeme, bereit für Innovationen, Verbesserungen und Erweiterungen. Es wäre fatal, würden wir nur einen von zwei demokratischen Armen trainieren. Den Arm, der bewahrt und beschützt, müssen wir ebenso anstrengen und einsetzen wie den, der kritisiert und reformiert.

Vier Vorwürfe – und eine Einladung

Im Rahmen unserer großen Demokratiekonferenz Innocracy am 26. Juni versuchen wir in diesem Jahr eben das zu tun und begeben uns in eine selbstkritische Auseinandersetzung mit unserem Demokratieverhältnis und der Demokratiepraxis: Welche Verantwortung zum Beispiel tragen Demokrat:innen selbst an der Demokratiekrise? Vier bekannte Vorwürfe lauten hier: Erstens, Politiker:innen hätten eine zu große elitäre Distanz zur Bevölkerung; zweitens, zu viele politische Fragen werden verrechtlicht; drittens, die Demokratie liefere einfach keine gerechten Verhältnisse; und viertens, Demokrat:innen hätten es Extremisten zu einfach gemacht und sie sogar in Teilen normalisiert. 

Unserer Einladung zu einer kritischen Durchleuchtung der Demokratiekrise zum Wohle einer konstruktiven Inspiration sind zahlreiche Personen gefolgt. So freuen wir uns bei der Innocracy im Zentrum für Kunst und Urbanistik (ZK/U) unter anderem auf Carsten Schneider, Franziska Brantner, Philip Amthor, Josefine Ortleb, Annette Widmann-Mauz, Britta Haßelmann sowie zahlreiche kluge und interessante Köpfe aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Medien. 
Ich würde mich sehr freuen, wenn auch Sie Lust haben bzw. ihr Lust habt, an diesem Tag mit uns zu zweifeln, zu diskutieren und bitte auch zu lachen. Denn Wilhelm Busch wusste: Wer sich selbst auf die Schippe nehmen kann, fällt nicht ganz so tief. Vielleicht liegt in dieser Art Humor – im lakonischen, selbstironischen Blick auf das eigene Tun – mehr demokratische Weisheit, als in mancher Grundsatzrede. Denn auch Demokratien brauchen keine Unfehlbaren, sondern Nachdenkliche. Am besten mit Reim, Haltung – und gelegentlichem Augenzwinkern.

Autorin

Paulina Fröhlich

Stellvertretende Geschäftsführerin und Leitung | Resiliente Demokratie
Paulina Fröhlich ist stellvertretende Geschäftsführerin und verantwortet den Schwerpunkt „Resiliente Demokratie“ des Berliner Think Tanks Das Progressive Zentrum. Dort entwirft sie Dialog- und Diskursräume, leitet die europäische Demokratiekonferenz „Innocracy“ und ist Co-Autorin von Studien und Discussion Papers.

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