Fertig Werden

In Krisenzeiten muss Deutschland lernen, schneller zu werden. Das gilt für viele öffentliche Projekte, in Kriegszeiten aber vor allem für die Bundeswehr, schreibt der ehemalige Wehrbeauftragte des Bundes.

In Deutschland erledigt man die Dinge gerne sehr genau. Das gilt auch und insbesondere für öffentliche Projekte. In Friedenszeiten kann sich das ein reicher Staat wie Deutschland auch erlauben. Doch in solchen Zeiten leben wir nicht. Der Krieg in der Ukraine fordert Geschwindigkeit und Effizienz – vor allem für einen lang vernachlässigten Bereich des Staates: die Bundeswehr.

Um es gleich zu Anfang auf den Punkt zu bringen: In Deutschland stecken wir gefühlt 50 Prozent unseres Aufwandes an Zeit und Geld in die letzten 2 Prozent vermeintlicher Perfektion eines jeden Projekts. Deshalb dauert alles immer länger und kostet immer mehr. Und umso weniger können wir uns dann am Ende wirklich „leisten“. Derweil haben immer mehr Mitbürgerinnen und Mitbürger das Gefühl, dass unsere Infrastruktur immer schlechter funktioniert, von Eisenbahn und Flughäfen über Straßen, Brücken und Schultoiletten bis zu Arztterminen, Pflegenotstand und der Einsatzbereitschaft unserer Streitkräfte. Die politischen Rechtfertigungen laufen meist auf „zu wenig Geld“ und „zu wenig Personal“ heraus.

Neuerdings aber darf nun auch in progressiven Kreisen auf einen anderen Grund verwiesen werden: die sehr deutsche 150-Prozentigkeit unserer regulatorischen Ansprüche. Die Eskalation von Vorschriften und Bestimmungen, Grenzwerten, Quoten, Genehmigungs- und Einspruchsvorbehalten in jedem einzelnen Fall hemmt die Funktionsfähigkeit des Ganzen. Für eine Gesellschaft oder eine Volkswirtschaft im Zustand vollständiger idealer Unangefochtenheit mag dieses aufwändige „Verbessern“ noch um des kleinsten Effekts willen hinnehmbar sein. Es geht uns ja gut. Ein bisschen Raum für spielerische Dekadenz oder bürokratische Überregulierung oder ideologische Moden sollte da wohl drin sein!

Aber für ein Land unter Stress, etwa in Erwartung einer kriegsbedingten Energiemangellage, wird der Faktor Zeit existenziell. Da heißt es: fertig werden! Dass dies mit der Bereitstellung von Flüssiggas-Terminals innerhalb weniger Monate, wo man sonst in Jahren rechnen müsste, gelungen ist, zeigt doch, dass es geht. Wenn sich diese neue „Deutschland-Geschwindigkeit“ auch auf andere Felder des Planens, Bauens, Genehmigens und Dienstleistens übertragen ließe, wäre das ein enormer Fortschritt, vielleicht sogar das Lösen einer Wachstumsbremse. Für den Bahnausbau und Arbeiten am Autobahnnetz hat die Ampel-Koalition sich ebenfalls bereits auf beschleunigte Verfahren geeinigt.

Es fehlt an allen Ecken und Enden

Ein Musterbeispiel für die bisher in Kauf genommene Verwahrlosung der Funktionsfähigkeit einer einst teuer aufgebauten öffentlichen Einrichtung ist die Bundeswehr. Mit jeder Schrumpfung und jeder Bundeswehrreform nach dem Ende des Kalten Krieges war stets der Anspruch verbunden, nun etwas Kleineres, aber gleichzeitig Besseres und Hochwertigeres zu schaffen. „Kleiner“ hat geklappt. Heute haben unsere Streitkräfte nicht mehr 500.000 Soldaten wie zu den alten West-Zeiten, sondern gesamtdeutsch 180.000, und es sind nicht mehr Wehrpflichtige, sondern Profi-Soldatinnen und -Soldaten.

Aber ist sie auch besser und hochwertiger geworden? Zur kollektiven Verteidigung in Europa ist diese auf Afghanistan optimierte Freiwilligenarmee momentan kaum einzuplanen. Gab es früher 36 aktive und 24 gekaderte Heeresbrigaden, so sind es derzeit siebeneinhalb. Davon ist eine einzige komplett einsetzbar (wenn alle anderen ihr Ausrüstung leihen). Die Bundeswehr verfügt inzwischen nur noch über 100 Artilleriegeschütze (Panzerhaubitze 2000) und 300 Kampfpanzer (früher 4600 Leopard 1 und 2), Reserven: keine, Munition: vor den Abgaben an die Ukraine gerade ausreichend für ein oder zwei intensive Gefechtstage.

Seit Putins erstem Ukrainekrieg 2014 musste eigentlich klar sein, dass eine zügige Wiederbewaffnung des deutschen Militärs das Gebot der Stunde ist. Der Verteidigungsetat wuchs dann auch von 32 Milliarden Euro 2014 auf 50 Milliarden 2022, also um mehr als 50 Prozent in acht Jahren (allerdings immer noch deutlich unter der in der Nato vereinbarten 2-Prozent-vom-BIP-Quote). Die materielle Einsatzbereitschaft blieb derweil prekär. Bei Waffen und Material fehlt es an allen Ecken und Enden, Ersatzteile sind Mangelware, neues Gerät fällt oft mit Kinderkrankheiten aus, altes wegen Altersschwäche.

Das Beschaffungs-Management der Truppe muss radikal reformiert werden

Weil die Effekte der zusätzlichen „Trendwende“-Milliarden (so die Parole der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen) deutlich zu gering ausfielen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede am 27. Februar 2022, drei Tage nach Russlands Überfall auf die Ukraine, die Bereitstellung eines nationalen Spezialfonds von einmalig 100 Milliarden Euro für die Vollausstattung der Bundeswehr angekündigt. Dieses kreditfinanzierte „Sondervermögen“ ist inzwischen verfassungsfest eingerichtet, so dass die Bundeswehr planen und Aufträge vergeben kann.

Damit das Extra-Geld nun aber wirklich die Kampfkraft der Truppe steigert und nicht wieder der Eindruck entsteht, dass der überorganisierte Wehrapparat noch jede zusätzliche Haushaltsmilliarde ohne erkennbare Verbesserung der Einsatzbereitschaft mühelos absorbiert, muss das Beschaffungs-Management unserer Streitkräfte radikal reformiert werden. Der gegenwärtige amtliche Rüstungsprozess scheint mehr und mehr darauf hin optimiert worden zu sein, möglichst wenig Geld auszugeben. Denn in den Jahren des Schrumpfens der Bundeswehr schrumpfte auch der jährliche Haushaltsanteil für Rüstungsinvestitionen auf (am Tiefpunkt) fünf Milliarden Euro (und selbst davon wurde eine Milliarde gar nicht ausgegeben).

2022 standen 10 Milliarden Euro im regulären Haushalt für militärische Beschaffungen zur Verfügung (wovon wiederum 2 Milliarden nicht ausgegeben wurden). Hinzu kommen in den nächsten Jahren nun aber die erheblichen Zuflüsse aus dem „Sondervermögen“, das eigentlich innerhalb von fünf Jahren verbraucht sein sollte. So schnell wird es natürlich nicht gehen, es dürfte länger dauern, die Mittel tatsächlich abfließen zu lassen. Und es stehen auch nicht wirklich 100 Milliarden bereit, sondern, wenn man 13 Milliarden für Zinszahlungen abzieht, 87 Milliarden.

Arbeitsschutz für Schwangere im hinteren Kampfraum des Schützenpanzers

Doch auch das ist sehr viel Geld, das verteilt auf vielleicht sieben Jahre, gut 12 Milliarden Euro jährlich zur Beschaffung von Rüstungsgütern zusätzlich bedeutet. Außerdem soll ja auch der reguläre Verteidigungshaushalt von heute 1,5 Prozent des BIP auf 2 Prozent steigen, was ebenfalls zusätzliche Rüstungsmilliarden mobilisieren würde. Das Beschaffungswesen müsste also quasi von jetzt auf gleich in der Lage sein, statt 8 Milliarden Euro Jahr für Jahr 25 Milliarden für neue Ausrüstung tatsächlich auszugeben. Unter den gegebenen Bedingungen: nicht zu schaffen. Ohne Veränderung von Institutionen und Regelwerk würde das Kanzler-Projekt scheitern.

Bisher lauteten – inoffiziell – die obersten drei Maximen für die Beschaffungsorganisation der Bundeswehr: erstens „rechtssichere Vergabe“ (angesichts zahlreicher Rüstungsskandale und Parlamentarischer Untersuchungsausschüsse), zweitens „europaweite Ausschreibung“ (weil Deutschland hier vorbildlich sein will) und drittens „zivile Standards“ (auch wenn der geforderte Arbeitsschutz für Schwangere im hinteren Kampfraum eines Schützenpanzers unter keinen Umständen kriegsentscheidend wäre). Für diese axiomatischen Setzungen, die viel Zeit und Geld verschlingen, kann man gewiss gute Gründe anführen, sie treffen aber nicht den Hauptzweck der staatlichen Rüstungsanstrengungen: voll aufgestellte, kampfstarke Streitkräfte für die Landes- und Bündnisverteidigung komplett auszurüsten. Darum geht es seit Putins Überfall auf die Ukraine und den russischen Atomschlagsdrohungen gegen den Westen mehr denn je.

Nicht der djihadistische Gemüseverkäufer auf dem Marktplatz von Kundus, der möglicherweise eine Sprengstoffweste unter seinem Gewand trägt, ist heute die wahrscheinlichste Gefahr, sondern die russischen Streitkräfte, die unsere osteuropäischen Bündnispartner bedrohen. Dagegen brauchen wir heute zum Beispiel: Raketenabwehr, die Fähigkeit zur nuklearen Teilhabe und verlegebereite Heeresdivisionen. Nur das, was real da ist, schreckt ab.

Es gilt, zügig fertig zu werden

Weil aber das fortbestehende Problem der Mangelausstattung wirklich dramatisch ist und sich nicht länger durch ein „dynamisches Verfügbarkeitsmanagement“ überbrücken lässt, hat nun der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius seinen Rüstungs-Staatssekretär Benedikt Zimmer eine neue Alarm-Doktrin verkünden lassen. Darin heißt es: „Der Faktor Zeit hat höchste Priorität und ist mit sofortiger Wirkung als der wesensbestimmende Faktor aller laufenden und neuen Rüstungsvorhaben der Bundeswehr maßgebend, um materielle Bedarfe der Streitkräfte deutlich schneller, effektiver und unbürokratischer als bisher zu decken.“

Entgegen der bisherigen Priorität auf verabsolutierten militärischen „Forderungen“, die in endlosen Entwicklungsprogrammen (oft multinational) für neue Waffensysteme münden, heißt es jetzt: „Marktverfügbarkeit ist die grundsätzlich vorzusehende Lösung.“ Und: „Das Eingehen technischer Realisierungsrisiken ist mit Blick auf Zeit und Kosten grundsätzlich zu vermeiden.“ Es gilt, zügig fertig zu werden. Die nächsten Projekte warten schon.

Zum selbstgemachten Bürokratie-Overkill heißt es in der Weisung zur neuen militärischen Deutschland-Geschwindigkeit: „Soweit bundeswehrinterne untergesetzliche Regelwerke die gesetzlichen Regelungen verschärfen, sind diese hiermit ausgesetzt.“ Und schließlich: „Alle vergaberechtlichen Möglichkeiten zur Beschleunigung von Verfahren sind konsequent auszuschöpfen.“ Damit ist der politische Führungswille eindeutig zum Ausdruck gebracht. Dennoch wird es weitere Mühe machen, Hunderte, wenn nicht Tausende von Vorschriften entsprechend anzupassen. Denn längst nicht immer dürfte auf den ersten Blick klar sein, welche Bestimmungen von dem Verdikt „hiermit ausgesetzt“ betroffen sind.

Damit nicht genug, wird gleichzeitig mit dem Durcharbeiten der normativen Beschaffungs-„Software“ der Verteidigungsminister an eine Änderung der institutionellen „Hardware“ gehen müssen. Auch hier muss es heißen: Weniger ist mehr. Vor der Bundeswehrreform von 2011 (unter den Verteidigungsministern Guttenberg und de Maiziere) gab es zum Beispiel keine eigene ministerielle Planungsabteilung und kein nachgeordnetes Planungsamt. Deren Aufgaben könnten nun wieder integriert werden in die Zuständigkeiten von Rüstungsabteilung, Beschaffungsamt und Teilstreitkräften.

Was nicht gebraucht wird: mehr Personal

Zugleich sollte das Beschaffungsamt in Koblenz von Aufgaben entlastet werden: Die zentralisierte Verantwortung für die Materialerhaltung könnte zurückverlagert werden zu den „Nutzern“, den TSK Heer, Luftwaffe, Marine usw. (wie vor 2011). Und für Allerweltsbeschaffungen sollten die Bundeswehrdienstleistungszentren, deren Bundesamt, die Truppe selbst sowie andere geeignete Institutionen (etwa des Sanitätsdienstes) sorgen können. Da arbeiten überall Erwachsene. Aber zur institutionellen Reform ist bisher noch nichts entschieden.

Was nicht erforderlich sein wird, ist zusätzliches Personal. Stete Personalmehrforderungen können geradezu ein Gradmesser bürokratischer Dysfunktionalität sein. Dass die unterschiedlichen Bundesregierungen in den vergangenen zehn Jahren ihr Personal in den Bundesministerien um 40 Prozent vermehrt haben, kann kaum mit einem entsprechenden Quantum zusätzlicher Aufgaben oder einer enormen Verbesserung der Qualität politisch-administrativer Arbeit zu tun haben. Stattdessen dürfte das Maß an Selbstreferenzialität gestiegen sein. Und eingestellt wird deshalb – weil man es kann.

Wenn nun aber die dargestellten normativen und institutionellen Veränderungen gelingen, könnte die Bundeswehr, deren Kümmernisse heute ein Sinnbild für viele andere prekär gewordene Strukturen in Deutschland geworden sind, zum Modell für ein erfolgreiches Umsteuern werden.

Autor

Dr. Hans-Peter Bartels

Gesellschaft für Sicherheitspolitik
Hans-Peter Bartels ist Politiker (SPD) und ehemaliger Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestags (2015-2020). Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.

Weitere Beiträge aus dem Online-Magazin

Status quo – im Namen der Zukunft! Generationengerechtigkeit zwischen Klimaschutz und Schuldenbremse

Veröffentlicht am
Gerechtigkeit hat viele Facetten. Deshalb wird sie nur dort erreicht, wo die Politik Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Politikfeldern berücksichtigt. Exemplarisch zeigt sich dies in der gegenwärtigen Debatte um die Finanzierung unserer Klimapolitik: Wer die nächsten Generationen vor hohen Schulden retten will, läuft schnell Gefahr, ihnen dabei schwere Klimahypotheken aufzubürden.

“Es kann niemand wollen, dass erste Wahlerfahrungen zu Frust und Ärger führen”

Veröffentlicht am
Junge Menschen sind von großen Problemen wie der Klimakrise und dem demografischen Wandel besonders betroffen. Ihre Interessen scheinen in der politischen Debatte aber häufig weniger Gewicht zu haben als die der Älteren. Würde ein einheitliches Wahlrecht ab 16 daran etwas ändern? Und wie blicken junge Menschen heute auf das Land und ihre Zukunft? Ein Interview mit Catrina Schläger und Thorsten Faas.

Warum wir keine Zeit haben, nicht zu beteiligen

Veröffentlicht am
Beteiligung ist kein Hindernis, sondern der Schlüssel zur Beschleunigung der Klimawende. Gerade umfassende Transformationsvorhaben erfordern eine Einbeziehung des Parlaments. Verbindet man parlamentarische Gesetzgebung mit zufallsbasierter Beteiligung von Bürger:innen, führt das zumeist zu progressiverem Klimaschutz. Mehr Partizipation erhöht also das Tempo der Transformation.
teilen: