„Die Menschen beteiligen“

Die Autor:innen der Studie „Die Übergangenen“, Paulina Fröhlich und Florian Ranft im Gespräch mit der „Frankfurter Rundschau“.

Wie Menschen in strukturschwachen Regionen von Betroffenen des Wandels zu Profiteuren gemacht werden können, beschreibt unsere Studie „Die Übergangenen“. Die Autor:innen Paulina Fröhlich und Florian Ranft haben sich darüber mit Alicia Lindhoff von der „Frankfurter Rundschau“ unterhalten.

Wer skeptisch auf die Klimawende schaut, gilt als Fortschrittsbremser. Eine neue Studie zeigt: Viele Menschen haben gute Gründe für ihre Sorgen – und sind dennoch bereit für den Wandel. Wenn nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholt werden. Paulina Fröhlich und Florian Ranft vom Berliner Thinktank „Das Progressive Zentrum“ zu der Frage, wie die Transformation zu einer klimaneutralen Gesellschaft funktionieren kann.

Frau Fröhlich, Herr Ranft, für Ihre Studie „Die Übergangenen“ haben Sie mit mehr als 200 Menschen in vier strukturschwachen Regionen Deutschlands über ihre Sichtweise auf das gesprochen, was Sie die „Große Transformation“ nennen. Warum?

Paulina Fröhlich: Für uns steht fest, dass das wichtigste politische Projekt dieses Jahrzehnts die gerechte Transformation hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft ist. Die Art wie wir arbeiten, konsumieren, produzieren wandelt sich. Und so ein Wandel verläuft natürlich nicht ohne massive Spannungen – zwischen Milieus, zwischen Stadt und Land, zwischen Generationen, zwischen kurz- und langfristigen Zielen. Eine der Gruppen, die besonders relevant ist für das Gelingen dieser Transformation, sind die Menschen, die in strukturschwachen Regionen leben – 13 Millionen in Deutschland. Diese Regionen sind in besonderem Maß vom Strukturwandel betroffen, weil sie in puncto Wettbewerbsfähigkeit, Anbindung und auch Anziehungskraft für sogenannte Talente von morgen nicht mithalten können. Sie erleben Transformation hauptsächlich als Nachteil, bekommen aber mit, dass andere davon profitieren.

Sie waren in sehr unterschiedlichen Regionen unterwegs, die aber gemeinsam haben, dass sie alle schon sehr schmerzhafte Transformationsprozesse erlebt haben. Was sind aus Sicht der Menschen dort die größten Herausforderungen in der Zukunft?

Paulina Fröhlich: Am häufigsten wurden soziale Themen genannt – von Alters- und Kinderarmut bis hin zur Schere zwischen Arm und Reich. Der nächste Punkt, der nur ein bisschen seltener kam, war allerdings die Bewältigung der Klimakrise. Es war beeindruckend, wie nah das beieinanderlag.

Als Sie dann aber konkreter nach der Situation vor Ort gefragt haben, sah das Bild ganz anders aus.

Paulina Fröhlich: Ganz genau. Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was die Menschen als große Herausforderungen des Landes anerkennen – dabei spielen Klimaschutzfragen eine große Rolle – und dem, was sie in Bezug auf ihre persönliche Zukunft und die Herausforderungen der eigenen Region umtreibt. Da steht eine ganz große Sorge im Zentrum: das Abgehängtsein – oder besser gesagt: das Abgehängtbleiben. Also die Angst, dass man weiter übergangen wird. Wir nennen das in der Studie eine „doppelte Bedeutungslosigkeit“. Einerseits ist das Gefühl materieller Art; ich sehe, dass ich keine Rolle spiele, denn warum sonst sollte dieses Gebäude so verfallen sein, warum sonst sollte die Post weg sein oder der Bus nicht mehr fahren. Aber es geht auch um immaterielle Bedeutungslosigkeit: Die Politiker kommen hier nicht her und fragen uns wie es uns geht oder erklären ihre Politik. Und wenn ich Fernsehen schaue, sehe ich uns nicht repräsentiert in den Talkshows.

Sie schreiben, einige Menschen hätten während Ihrer Interviews sehr emotional reagiert.

Florian Ranft: Das eine was die Menschen bewegt hat, war, dass da überhaupt mal jemand kommt und sich ihre Probleme anhört. Aber auch das Thema selbst wühlt die Menschen auf. Wir haben Leute an den Haustüren angetroffen, die in Tränen ausgebrochen sind, weil sie so emotional über die Zukunftschancen der nächsten Generation und ihrer Region berichtet haben. Und das bringt uns zu dieser großen Frage der Transformation: Wir gehen ja oft davon aus, wir haben jetzt eine neue Regierung, die hat einen Fahrplan und setzt das alles um – zwei Prozent der Landfläche für regenerative Energien und so weiter -, aber da hängt natürlich für die Menschen vor Ort wahnsinnig viel dran. Sie fragen sich: Was passiert jetzt mit den Industrien, die es vor Ort noch gibt? Was bedeutet das für uns, wenn die ganzen Windräder auf einmal hierher kommen?

Auffällig ist: Gefragt nach den Wünschen für ihre Region nennt die große Mehrheit der Menschen eine Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur – vom ÖPNV bis hin zu Schulen und Kultureinrichtungen.

Paulina Fröhlich: Und kurz dahinter kommt auch schon der Wunsch nach mehr Zusammenhalt. Das alles wünschen sich die Leute einfach zurück und das ist aus meiner Sicht eigentlich fast anspruchslos.

Das Klischee will, dass gerade „Abgehängte“ Veränderungen ablehnen, sich die Rückkehr in eine bessere Vergangenheit wünschen. Können Sie das bestätigen?

Florian Ranft: Nein, überhaupt nicht. Wir haben so gut wie nie gehört, dass die Leute sich die gute alte Zeit zurückwünschen. Es ist eher so, dass sie einen fein justierten Kompass für soziale Ungerechtigkeiten haben. Eine Frau war beispielsweise sicher, dass am Ende „der kleine Mann“ die Kosten für die Transformation tragen muss. Wir glauben, dass das stark mit den Erfahrungen dieser Menschen aus der Vergangenheit zusammenhängt.

Sie fassen das Grundgefühl vieler Befragter in Ihrer Studie schlicht so zusammen: „Die Klimakrise ist ein Problem, aber uns drängen hier soziale Nöte.“

Florian Ranft: Bei einem Bürgergespräch mit Annalena Baerbock im Bundestagswahlkampf hat der Ortsvorsteher eines kleinen brandenburgischen Dorf an der polnischen Grenze die Lage sehr treffend auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt, erstens: Wenn ich hier nicht stehe, steht die AfD auf dem Platz. Und zweitens: Wir haben hier Probleme und die sind so fundamental für die Menschen, dass sie gar keine Kapazitäten haben, sich über diese großen Transformationsfragen Gedanken zu machen – oder darüber, ob sie sich Solarzellen aufs Dach bauen.

Was braucht es, damit die Menschen in diesen strukturschwachen Regionen von dem anstehenden Wandel nicht ein weiteres Mal abgehängt werden, sondern davon profitieren können?

Florian Ranft: Es gibt gerade im ländlichen Raum das Potenzial, dass Kommunen unmittelbar vom Ausbau der regenerativen Energien profitieren. Wenn sie finanziell dazu befähigt werden, als Akteure aufzutreten, die selber in diese regionale Wirtschaft investieren können und dann auch von den Gewinnen dieser regenerativen Revolution profitieren. Diese Gewinne könnten dann wiederum in die soziale Infrastruktur fließen, die sich die Menschen so wünschen.

Das klingt zunächst noch abstrakt, und auch dabei muss man erstmal daran glauben, dass die Gewinne irgendwann wirklich fließen.

Florian Ranft: Wir haben begleitend dazu eine Reihe von Vorschlägen entwickelt, wie der Einzelne direkt profitieren kann. Ein Beispiel: Man entwickelt ein System, bei dem die öffentliche Hand die energetische Sanierung für das eigene Haus übernimmt. Und mit den gesparten Energiekosten kann man dann Stück für Stück die Vorabfinanzierung zurückzahlen – eine Art Leasinggebühr also. Ähnlich kann man das auch mit dem Kauf von E-Autos, Solarstrom- und Thermoheizanlagen machen. So würde man in die Region investieren und gleichzeitig kommt beim Einzelnen auch was an.

Sie fordern aber nicht nur, dass mehr Geld in diese Regionen fließen soll, sondern auch, dass die Menschen vor Ort mehr Gestaltungsmacht bekommen.

Paulina Fröhlich: Das ist für uns der Transmissionsriemen zwischen den harten finanzpolitischen Investitionen und der Demokratie. Es gibt diesen aktivistischen Satz „Nothing about us without us“. Es ist ja nicht so, dass es aktuell noch keine Förderprogramme gibt. Aber bei der Entscheidung, wohin die Gelder fließen sollen, wurden die Menschen vor Ort nicht beteiligt.

Florian Ranft: Nehmen wir mal das Strukturstärkungsgesetz, das 2020 beschlossen wurde. Da fließen jetzt bis 2038 voraussichtlich 40 Milliarden, aber was genau damit passiert, ist noch völlig unklar, es gibt aktuell keinen öffentlichen Diskurs darüber. Und die Menschen spüren das. Es gab dazu eine Debatte im Süden von Sachsen-Anhalt. Da sind die ersten Millionen angekommen und was hat man damit gemacht? Die Fassade einer Kirche saniert. Die Leute haben sich gefragt: Was hat das jetzt mit meinen Zukunftsperspektiven zu tun? Man muss die Menschen vor Ort ins Boot holen, sie kennen Ihre Region am besten. Da liegt unheimlich Potenzial, das aber auch viel Arbeit machen wird.

Sie schlagen vor, „Transformationscluster“ einzurichten. Wenn ich das richtig verstanden habe, sollen das regionale Institutionen sein, in denen diskutiert wird, was vor Ort wie umgesetzt wird.

Paulina Fröhlich: Dieser Vorschlag stammt aus dem Koalitionsvertrag. Doch dort ist nicht en detail beschrieben, was mit den Transformationsclustern gemeint ist. Aus unserer Sicht sind drei Aspekte sehr wichtig. Es braucht erstens eine breite Teilhabe. Das bedeutet, dass nicht nur betriebliche Akteur:innen drin sitzen – also Arbeitgeber, Gewerkschaften und die Politik, sondern auch Vertreter der Zivilgesellschaft, Kunst- und Kulturakteure aus der Region und – warum nicht – auch geloste Bürger:innen. Zweitens müssen solche Institutionen echte Entscheidungsmacht haben. Wenn das nur ein Runder Tisch ist, wo man sich austauscht und das wars, dann bringt das nichts. Und drittens sollten solche Beteiligungsformate in regionaler Kompetenz liegen sollten und nicht eingekauft werden bei privaten Agenturen.

Was wäre der größte Fehler, den die neue Bundesregierung in den kommenden Jahren machen könnte?

Paulina Fröhlich: Ich glaube, wenn sich das Bild verfestigt, dass die Transformation eine Bürde ist, eine Last – und zwar eine Last auf den Schultern, die eh schon dünner sind –, dann haben wir verloren. Und das kann entweder durch schlechte Politik der Ampel passieren. Oder durch besonders geschicktes Agieren der Rechten. Deswegen braucht es beides: Wir müssen die Rechten daran hindern, ihr Gift in der Gesellschaft zu verbreiten. Und es braucht eine gerechte Transformation, die den Blick auf jene richtet, die sich bisher als Betroffene fühlen.

Das Interview führte Alicia Lindhoff. Hier gelangen Sie zum Text auf der Seite der „Frankfurter Rundschau“, der am 18.03.2022 erschienen ist.

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