„Der ‚kleine Mann‘ wird wieder Zahler“

In einem Gastbeitrag für das „Jacobin“-Magazin fassen Florian Ranft und Johanna Siebert die Erkenntnisse der Studie „Die Übergangenen“ zusammen.

Die Studie „Die Übergangenen: Strukturschwach und erfahrungsstark“ belegt: Menschen in strukturschwachen Regionen halten Klimaschutz für wichtig, aber fühlen sich von der Politik übergangen. Das ist nicht nur ein Problem für die Klimawende, sondern auch für die Demokratie. In einem Gastbeitrag für das „Jacobin“-Magazin fassen Florian Ranft und Johanna Siebert die Erkenntnisse zusammen.

Bitterfeld hat eine bewegte Nachkriegsgeschichte: In der DDR war die Stadt Produktionsstätte und Industriezentrum, wurde in den Wendejahren schwer von der Deindustrialisierung getroffen, erlebte als »Solar Valley« durch das Aufblühen der Solarindustrie in den 2000ern einen kurzen Wiederaufschwung, bevor dieser durch die wachsende Konkurrenz aus China bald wieder zum Erliegen kam. Die Folgen dieser wirtschaftlichen Achterbahnfahrt sind Fortzug, Überalterung, infrastruktureller Rückgang und sinkende wirtschaftliche Leistung.

Bitterfeld ist in vielerlei Hinsicht ein Extrembeispiel. Zu DDR-Zeiten erreichte die Umweltverschmutzung dort ein derartiges Ausmaß, dass sie der Stadt durch Romane wie Monika Marons Flugasche und Fernsehdokumentationen wie »Bitteres aus Bitterfeld. Eine Bestandsaufnahme« zu ungewollter Berühmtheit verhalf. Das Image bleibt bis heute haften. Und doch verbindet Bitterfeld so einiges mit anderen Regionen in Ost- und Westdeutschland: nämlich eine Reihe von Umbrüchen und die daraus resultierende Strukturschwäche.

Wir waren in jenen Regionen unterwegs, wollten die Stimmen hinter den Fassaden hören und mit den Menschen über ihre persönliche Zukunft sowie die der Region und des Landes ins Gespräch kommen. Die Interviews sind Teil der Studie »Die Übergangenen: Strukturschwach & erfahrungsstark«. Im Rahmen dieses Projekts führten wir im Ruhrgebiet, in Vorpommern-Greifswald, im Regionalverband Saarbrücken und in Bitterfeld-Wolfen über 200 Haustürgespräche. Denn um den sozial-ökologischen Umbau gerecht zu gestalten, ist es notwendig, denjenigen zuzuhören, die aus der eigenen Erfahrung heraus wissen, was Strukturwandel wirklich bedeutet. Das ist zum einen notwendig, weil die Maßnahmen zur Bewältigung der Klimakrise ohne gesellschaftliche Akzeptanz nur schwer umsetzbar sein werden. Zum anderen ist es wichtig, aus dem wertvollen Erfahrungsschatz, den diese Regionen mitbringen, zu schöpfen.

Abgehängt

Fest steht: Auch außerhalb der boomenden Metropolregionen sorgen sich die Menschen um Klima und Umwelt. Die Befragten hielten dieses Thema knapp hinter sozialer Ungleichheit für die größte Herausforderung, der sich Deutschland in Zukunft stellen werden muss. Die Angst, dass die Kluft zwischen Arm und Reich durch klimapolitische Maßnahmen wächst, ist groß. »Der ›kleine Mann‹ wird ja wieder der Zahler – beim Klimawandel oder bei den Spritpreisen«, sagt eine ältere Dame in Bitterfeld resigniert im ersten Interview. »Und wer ist denn auf die alten Autos angewiesen? Die, die kaum was haben.«

Diese Sorge ist nicht unbegründet ist. So zeigte etwa eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, dass steigende Energiepreise ohne angemessene Ausgleichszahlungen vor allem untere Einkommensgruppen treffen. In dem Zitat der Bitterfelderin klingt noch ein weiteres Thema durch. Im strukturschwachen Raum – ganz gleich ob im Osten oder Westen Deutschlands – mangelt es an öffentlicher Infrastruktur: Die Straßen sind schlecht ausgebaut, der öffentliche Nahverkehr ist sporadisch, es fehlt an lokalen Einkaufs- und Freizeitangeboten. Da sollte es nicht überraschen, dass im direkten Lebensumfeld der Menschen soziale Schieflagen klima- und umweltpolitische Themen überschatten. Auf die Frage nach den regionalbezogenen Zukunftssorgen werden vor allem Antworten gegeben, die sich unter dem Gefühl des »Abgehängtseins« zusammenfassen lassen. Besonders auffällig dabei ist: Die Befragten befürchten weniger, eines Tages als Region abgehängt zu werden, sondern vielmehr es auch in Zukunft weiterhin zu bleiben.

Erfahrungen aus Vergangenheit und Gegenwart prägen den Blick der Menschen auf die Zukunft. Unerfüllte Versprechen und ausbleibende wirtschaftliche Besserung beeinflussen das Vertrauen in politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger. Knapp die Hälfte der Befragten zeigt sich hinsichtlich der Frage, welche politischen Akteure oder Parteien sich um ihre Interessen kümmerten, resigniert. »Ich bin misstrauisch. Bevor sich da grundlegend nichts ändert, traue ich da keinem mehr«, sagt ein älterer Herr aus Torgelow. Schlagworte wie »Korruption« und »Bereicherung« fallen häufig. Viele haben das Gefühl, übergangen worden zu sein. »Ich glaube keiner von den Politikern kümmert sich um das kleine Volk, die versprechen viel und halten sich nicht daran«, meint ein junger Mann aus Saarbrücken.

Zuhören und anpacken

Neben dieser erheblichen Skepsis gegenüber der Politik ist an den Gesprächen ein weiterer Aspekt besonders bemerkenswert: Die Mehrheit der Befragten ist der Meinung, dass die Demokratie den strukturellen Herausforderungen der Zukunft gewappnet sei, auch wenn Verbesserungsvorschläge geäußert wurden. Die Bereitschaft an demokratischen Prozessen teilzuhaben, ist nach wie vor vorhanden. »Wichtig ist doch, dass den Menschen hier Gehör geschenkt wird«, erzählt uns eine Frau in Bitterfeld. Sie wisse, dass die Wünsche nicht sofort umgesetzt werden könnten, aber »einfach mal zuhören« sei eben doch wichtig.

Der Appell ist eindeutig: Die neue Ampelregierung hat sich einer Kehrtwende in der Klimapolitik verschrieben, doch um diese wirklich anzugehen, muss sie die materiellen und immateriellen Sorgen der Menschen in strukturschwachen Regionen adressieren. Ja, es braucht Geld für die Kommunen (etwa in Form von kommunaler Altschuldenentlastung oder der Bezuschussung von Solarstrom-Ausbau), damit diese in erneuerbare Energien investieren und von der sozial-ökologischen Transformation profitieren können.

Aber um die Regionen zu strategischen Partnern in der Transformation zu machen, brauchen sie auch Gestaltungsmacht (z.B. Mitbestimmung bei der Verteilung finanzieller Mittel durch Transformationscluster). Außerdem ist es zentral, dass den Menschen in strukturschwachen Regionen mehr Gehör verschafft wird und Möglichkeiten des politischen Austauschs außerhalb der Wahlkampfzeiten ausgebaut werden.

Die Frage der Gerechtigkeit spielt dabei für strukturschwache Regionen eine übergeordnete Rolle. Eine erfolgreiche Klimapolitik wird sich auch daran messen lassen müssen, wie sie auf vergangene Versäumnisse reagiert, ob sie bestehende Ungleichheiten reduziert und in der Bevölkerung Akzeptanz findet. Um dies zu gewährleisten und Vertrauen in politische Prozesse zurückzugewinnen, sollten finanzielle Investitionen mit echter Beteiligung kombiniert werden.

Hier muss die Politik neue Wege abseits der eingetretenen Pfade und Denkweisen beschreiten und auch offen für neue Ansätze sein: Wie wäre es denn etwa damit, aus den Mitteln des Strukturstärkungsgesetzes dieses Jahr Summer Schools zu organisieren, bei denen die Menschen die eigene energetische Haussanierung erlernen? Dämmstoffe gibt es nach Abschluss der Schulung für den Eigenausbau obendrauf. Damit wäre auch ein Schritt in Richtung Energieunabhängigkeit von Russland getan.

Hier geht es zum Artikel, der am 03.05.2022 auf der Webseite des „Jacobin“-Magazin erschienen ist.

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