Wie aus dem Solisommer kein Wutwinter werden muss

Policy Fellow Johannes Hillje macht der Regierung im Gastbeitrag für „ntv.de“ drei Vorschläge, um den vermeintlich drohenden Wutwinter zu verhindern.

Wenn die Belastung für deutsche Haushalte zunimmt, befürchten manche den Zorn der Bevölkerung. Policy Fellow Johannes Hillje plädiert in seinem Gastbeitrag für „ntv.de“ dafür, nicht zu ängstlich zu sein. Die Deutschen ließen sich eher von Werten leiten als von Wut.

Wie eine aufziehende Gewitterfront am Badestrand sorgt ein Begriff in der deutschen Politik derzeit für Alarmstimmung: Wutwinter. Ein Traum für Querdenker und Extremisten, ein Albtraum für die Demokratie, warnen Verfassungsschützer. Nach Migration und Corona könnte die Inflation für rechte und sonstige Radikale das nächste Gelegenheitsthema werden.

Und es stimmt ja, dass neurechte Strategen bei solchen Anlässen von einem „Proxy-Thema“ sprechen: Ein Instrument, das die demokratiefeindliche Agenda vorübergehend übertönen soll, um das Tor zur Mitte der Gesellschaft weit aufzustoßen. Und es stimmt auch, dass die enorm steigenden Kosten bei sinkender Kaufkraft die Unzufriedenheit und das Protestpotenzial erhöhen.

Nun sind Demonstrationen zunächst ein demokratisches Grundrecht und ein Protestpotenzial noch kein Radikalisierungsgarant. Trotzdem verbreitet sich rasend schnell die Annahme, dass radikalisierte Proteste quasi wie ein Naturgesetz in diesem Herbst und Winter eintreten werden. Zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger glauben laut einer Insa-Umfrage an „soziale Unruhen“. Der Verdacht liegt nahe, dass den meisten dabei als erstes Pegida, Querdenker und Rechtsextreme in den Sinn kommen. Sie haben die demokratische Gesellschaft offenbar das Fürchten gelehrt. Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass diese Minderheiten immer auch mit der Aufmerksamkeit der Mehrheit gefüttert wurden.

Dass Mobilisierer der Corona-Protestszene derzeit händeringend nach einem neuen Thema suchen, ist wenig überraschend und vor allem purer Selbstzweck: An den Proteststrukturen hängen nicht nur Ideologien, sondern auch Geschäftsmodelle, die nun ein neues Protestprodukt brauchen. Eine selbstbewusste demokratische Gesellschaft sollte sich davon nicht verrückt machen lassen, sondern unaufgeregt über einen angemessen Umgang beraten.

Werte leiten das Land, nicht Wut

Vor allem sollte sie nicht vergessen, dass die gesellschaftliche Stimmung der letzten Monate eine ganz andere Entwicklung in Herbst und Winter nahelegt: Die Solidarität mit der Ukraine war und ist sehr groß. Die Willkommenskultur gegenüber den Geflüchteten hält an. Zustimmung zu Waffenlieferungen für die Ukraine und Sanktionen gegen Russland sind auf hohem Niveau. Und was am deutlichsten gegen Massenproteste spricht: 71 Prozent der Deutschen wollen die Ukraine auch bei hohen Energiepreisen weiterhin unterstützen. Derzeit gilt also: Werte leiten das Land, nicht irgendeine Wut.

Deutschland erlebt einen Solidaritätssommer und sollte daher einem Wutwinter nicht voreilig das Wort reden. Sorglosigkeit ist aber fehl am Platz: Mit dem saisonalen Klima kann sich auch das gesellschaftliche Klima ändern. Die sachpolitischen Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung stehen deshalb zurecht unter verschärfter Beobachtung. „You’ll never walk alone“ muss sich zügig im Geldbeutel der Geringverdienenden beweisen.

Es geht jedoch nicht nur um Sachpolitik. Es geht auch um Stimmungen. Und hier sind alle demokratischen Kräfte, ob Regierung oder Opposition, wie auch Medien gefordert, um einen Zulauf zu Verfassungsfeinden zu verhindern. Als erstes darf das Kriegsleid der Ukrainerinnen und Ukrainer nicht aus dem Fokus der Öffentlichkeit geraten.

Leider gibt es bereits deutliche Anzeichen für das Gegenteil, die sich zuletzt in den Fragen und Antworten bei der Sommerpressekonferenz von Olaf Scholz manifestierten. Dort ging es kaum noch um die Kriegsbelastung der Ukrainerinnen und Ukrainer und fast nur noch um die Kostenentlastung der Deutschen. Das ist nicht nur moralisch unerträglich, sondern auch politisch wenig vorausschauend, da eine gewisse Inflationstoleranz eben auf der Solidarität mit der Ukraine beruht.

Gas wird teuer – Freiheit ist unbezahlbar

Damit diese nicht bröckelt, wäre es eine gute Idee, wenn der Bundestag Wolodymyr Selenskyj in der ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause erneut für eine Rede einladen würde. Der ukrainische Präsident würde den Deutschen höchst wahrscheinlich klar machen: Ihr bezahlt mehr Geld für eure Heizung, aber wir bezahlen mit unserem Leben! Selenskyj würde uns wohl daran erinnern, dass dieser Krieg auch unser Krieg ist. Gut so: Keine Gasumlage der Welt kann so teuer sein, wie die unbezahlbare Freiheit in Europa.

Am Ende gehören diese geopolitischen Botschaften aber auch in das Zentrum der Krisenkommunikation der Bundesregierung, schließlich werden sich einige trotz aller Versprechen von Kanzler Scholz zurückgelassen fühlen. Daher muss erklärt werden, was für Europa und die Demokratie auf dem Spiel steht, warum kurzfristige und schmerzhafte Nachteile ertragen werden müssen, und wie wir langfristig in einer besseren Welt mit demokratie- und klimakompatibler Energieversorgung leben können.

Zweitens sollte zu jeder Zeit zweifelsfrei klar sein, wer für die derzeitige Gaskrise die Verantwortung trägt. Freilich haben deutsche Regierungen in unverantwortlicher Weise das Schicksal der Gasversorgung eines großes Industrielandes in Putins Hände gelegt. Vertragsbrüchig in mehrfacher Hinsicht (Völkerrecht und Gasverträge) ist aber Putin geworden.

Er ist, um es in der Sprache der Protestbewegungen zu sagen, das zentrale Feindbild. Längst versuchen AfD und ihre Verbündeten auf der Straße jedoch, diese Realität zu verdrehen: Schuld an Inflation und Mangellage sei allein die Bundesregierung. Die Energiewende und Sanktionspolitik gegen Russland die Ursachen. Die Lösung aller Problem? Nord Stream 2. Der Kreml könnte es nicht besser erklären.

Kein neues Butscha, keine neue Empörung

Und auch Putin selbst wird weiter versuchen, an der Stimmung hierzulande zu drehen. Durchaus denkbar, dass er in diesem Herbst militärische Kriegsführung in der Ukraine und hybride Kriegsführung in Europa noch stärker aufeinander abstimmt: Seit einigen Wochen ist ein zermürbender Stellungskrieg zu beobachten. Eine Folge davon ist, dass die Kriegsfront, „das Schlachtfeld“, langsam aber sicher aus unseren Nachrichten rutscht. Und damit auch aus unserer Aufmerksamkeit.

Zynisch gesagt: Kein neues Mariupol, kein neues Butscha, keine neue Empörung. Putin wird wissen, dass ein Abnutzungskrieg auch an der Informationsfront geführt werden muss. Das darf unseren Blick auf den verbrecherischen Überfall nicht verstellen. Schon gar nicht dürfen

Drittens: Auch wenn die Solidarität mit der Ukraine anhält, wird es Unmut, Verunsicherung, womöglich auch Wut aufgrund der Preissteigerungen geben. Für berechtigtes Unbehagen müssen demokratische Kräfte ein besseres Artikulations- und Identifikationsangebot als die Extremisten unterbreiten. Dass sich die Linke hierzu berufen fühlt, ist prinzipiell nicht falsch. Übrigens stehen auch Sozialverbände und Gewerkschaften in der gesellschaftlichen Verantwortung, sozialen Interessen Gehör zu verschaffen.

Vollkommen falsch ist jedoch, wenn ein Linker ausgerechnet zu „Montagsdemos“ aufrufen will. Die Verwendung dieses Begriffs könnte am Ende auf tragische Weise jenen radikal Rechten mehr Zulauf bescheren, die spätestens seit Pegida-Zeiten damit mobilisieren. Auch begrifflich muss ein besseres Angebot gemacht werden.

Und noch etwas sollten die Organisationen von demokratischen Protesten bedenken: an der russischen Botschaft vorbeizulaufen. Da ist es dann sogar erwünscht, wütend zu werden.

Hier gelangen Sie zur Webseite von „ntv.de“, wo der Beitrag am 17.08.2022 erschienen ist.

teilen: