Warum wir ein neues Machtverständnis brauchen – und Menschen mit biografischen Transformationserfahrungen

In der deutschen Bevölkerung machen sich angesichts der aktuellen Krisen Gefühle von Ohnmacht und Überforderung breit. Die Politik der Bundesregierung begegnet dieser emotionalen Verunsicherung größtenteils mit paternalistischer Fürsorge oder technokratischer Distanz: die Transformation als ein Top-Down-Projekt, das leise ist und bestenfalls niemand zu spüren bekommt. Wie eine alternative Transformationspolitik aussehen könnte, die den Bürgerinnen und Bürgern vor allem Handlungsspielräume und Gestaltungsmacht ermöglicht, haben wir mit den Autorinnen Sophie Pornschlegel und Jeannette Gusko diskutiert. Zwei Frauen, zwei Thesen – und eine zentrale Erkenntnis aus der Schnittmenge ihrer Bücher.

Viele Progressive haben eine ambivalente Beziehung zum Volksbegriff – und das, mit Blick auf die dunklen Kapitel der deutschen Geschichte, aus nachvollziehbaren Gründen. Dennoch ist es in unserer Verfassung das Volk – nicht die weniger definierte Bevölkerung –, das die Herrschaft innehat und dem die Regierung gegenüber verantwortlich ist. Diese Unterscheidung ist nicht nur Teil einer semantischen Debatte: Das Ringen um einen geeigneten Kollektivbegriff ist eng verwoben mit dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Rechtspopulisten mobilisieren mit dem Volksbegriff seit Jahren gegen gewählte Regierungen. Gerade darum müssen sich Progressive mit ihm auseinandersetzen und diskutieren, wie wir die Macht des Volkes insbesondere in der Transformation verstehen und als kollektive Gestaltungsmacht nutzen können.

Diese Frage haben wir am 24. April mit den Autorinnen Jeannette Gusko und Sophie Pornschlegel sowie rund 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft diskutiert – unter dem Titel “Transformation durch das Volk und für das Volk“. Jeannette Gusko untersucht in ihrem Buch „Aufbrechen“ die Transformationskompetenzen von Bürger:innen als wohl größte ungenutzte Ressource für unsere Zukunft. Sophie Pornschlegel behandelt in „Am Ende der gewohnten Ordnung“ die Frage nach einem neuen, kollektiven Verständnis von Macht. Die Quintessenz ihrer Botschaften: Die Bürger:innen müssen zu den Protagonistinnen und Protagonisten der Transformation werden.

Doch wie erreichen wir dieses Ziel? Sophie Pornschlegel führt ein noch immer weit verbreitetes machiavellistisches Machtverständnis als einen Grund für den Widerstand gegen die Transformation bzw. ihre unzureichende Dynamik an. Viele Bürger:innen betrachteten gesellschaftliche Machtverhältnisse als Nullsummenspiel – und Macht als individuelle Ressource. Koalitionsstreitigkeiten bspw. oder Konflikte zwischen der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten würden in den Medien oft als Bestätigung dieser Auffassung dargestellt.

Ein sozialeres Machtverständnis, für das Sophie Pornschlegel unter Berufung auf Hannah Arendts Machtbegriff plädiert, zeigt hingegen, dass sich unsere individuelle Handlungs- und Gestaltungsmacht potenziert, wenn wir sie teilen. Dies gelte sowohl auf kommunaler und lokaler Ebene für Bürger:innen als auch auf supranationaler Ebene für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Dennoch bremsten Verlustängste noch immer die Umsetzung eines sozialeren Machtverständnisses aus. Sophie Pornschlegel betonte, dass es für progressive Parteien im Vorwege der Wahlen zum EU-Parlament entscheidend sei, die Lösung der gegenwärtigen Krisen Europas als eine gemeinsame Aufgabe darzustellen und nicht Staaten gegeneinander auszuspielen. Der Erfolg Europas hänge von dieser Wahrnehmungsverschiebung ab.

Jeannette Gusko sieht vor allem Menschen mit Transformations-Erfahrungen als mögliche Vorreiter des Wandels. Personen, die bereits große Veränderungen erlebt und gestaltet haben, können auf ihr Wissen zurückgreifen. Denn Transformationserfahrung führe zu einer dauerhaften Bereitschaft, sich und die Verhältnisse, in denen man lebt, zu verändern – und damit zu einer spezifischen Transformationskompetenz. Jeannette Gusko bezieht sich insbesondere auf drei Gruppen in der deutschen Bevölkerung: die sogenannten Wendekinder, die den Systemumbruch in Ostdeutschland miterlebt haben und in eine neue Gesellschaftsstruktur geraten sind; soziale Aufsteiger:innen, die den Weg aus der Armut in gesicherte Verhältnisse gefunden haben; und schließlich Migrantinnen und Migranten der ersten und zweiten Generation, die in ihrer Biografie kulturelle und sozioökonomische Hürden überwunden haben. 

Zwar würden diese Gruppen einen Anspruch auf Mitgestaltung erheben, stünden jedoch im wieder vor großen Herausforderungen bei der Realisierung dieses Anspruchs. Jeannette Gusko verwies auf sozialpsychologische Studien, die zeigten, dass Chancen verpasst wurden, Menschen mit Transformationserfahrungen frühzeitig zu befähigen, ihre Erlebnisse zu reflektieren und in Kompetenzen umzusetzen, von denen die Gesellschaft als Ganzes profitieren könnte. Dieses Versäumnis sowie das Weiterbestehen von Barrieren sind Jeannette Gusko zufolge auch Gründe dafür, dass die AfD bei Menschen in Ostdeutschland und einigen Migrantinnengruppen Erfolg hat.

Ein weiterer Aspekt, den Sophie Pornschlegel im Hinblick auf die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg einbrachte, ist das Fehlen einer Zukunftsvision, in der die Gestaltungsmacht der Menschen auf lokaler bzw. kommunaler Ebene eine Rolle spielt und in der die Transformation als Bereicherung für alle betrachtet wird. Die technokratische Politik der vergangenen Jahrzehnte habe keine Vision entworfen, sondern Veränderung per se in ein schlechtes Licht gerückt: Viele politische Maßnahmen seien auf die größtmögliche Stabilität der Verhältnisse und damit auf die Gegenwart fixiert gewesen.

Die Herausforderung bestehe nun darin, Zumutungen, die bei Veränderungen als Begleiteffekt auftreten, durch eine konkretere Ansprache und zielgenaue soziale Ausgleiche aus dem Fokus der gesellschaftlichen Debatte zu nehmen. Was im Zentrum stehen sollte, sei der enorme Erfolg, den eine Bewältigung der Transformation für Europa und die Menschen vor Ort bedeuten würde. Die Aussicht auf diesen Erfolg – und davon auch fair zu profitieren – solle man in ihrer Wirkung nicht unterschätzen.

Viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren sich an diesem Abend einig, dass es neue Konzepte braucht, um die Bevölkerung in die Transformation einzubinden. Der Machtbegriff, den Sophie Pornschlegel in ihrem Buch konzipiert, liefert dafür einen Ansatz – nicht auf analytischer Ebene, sondern als Ausgangspunkt für eine Transformationsdebatte, die nicht von Schuldzuweisungen, Ängsten oder Zumutungen dominiert wird. Es gelte, die kollektive Anstrengung als solidarischen und fairen Prozess zu veranschaulichen.
Auf die Kompetenzen und Leistungen zu verweisen, die sehr viele Menschen aufgrund persönlicher und gesellschaftlicher Umbrüche vorzuweisen haben, könnte auch die Verhärtungen im Diskurs aufbrechen und ins Machen führen. Denn genau diese Personen müssen von der Politik in die Gestaltung einer Zukunftsvision und in die konkrete demokratische Arbeit im Hier und Jetzt eingebunden werden. Nur so – das der Tenor an diesem Abend – kann die Transformation für das Volk und durch das Volk gelingen.

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