Vom Krisengeschehen zur Krisengeschichte

Erste Überlegungen zur Historisierung der Corona-Krise

Wie sich eine Krise geschichtswissenschaftlich erforschen lässt und wie sich das dokumentierte Krisengeschehen im Prozess der Geschichtsschreibung zur Krisengeschichte entwickeln könnte, das beschreibt Birte Förster in ihrem Beitrag für „Corona & Society“.

Seit März 2020 ruft das Public-History-Projekt „coronarchiv“ dazu auf, Dokumente der Krise auf einer Plattform im Netz hochzuladen. Mit dem Bewusstsein, sich wohl in der Lieblingssituation von HistorikerInnen namens „Brüche und Wandel“ zu befinden, sollen auf diese Weise zeitnah Quellen der Mikroebene des Privaten gesichert werden – gewissermaßen Dokumente einer Krisenwahrnehmung und -erfahrung von unten. Material, das in der Rückschau nur schwierig zu finden ist, kann so in das CoronaArchiv eingehen. Diese „persönlichen Erinnerungen und Fundstücke“ der Corona-Krise sind freilich nur ein Teil der ausufernden Dokumentation einer globalen Krise und ihrer Kommunikation.

Dieser Beitrag thematisiert, wie sich eine Krise geschichtswissenschaftlich erforschen lässt und wie sich das dokumentierte Krisengeschehen im Prozess der Geschichtsschreibung zur Krisengeschichte entwickeln könnte.

Semantik und Wahrnehmung der Krise

Am Anfang steht die Frage, was mit Krise eigentlich gemeint ist. Wie jeder Begriff erfährt auch „Krise“ einen Bedeutungswandel, den der Geschichtstheoretiker Reinhart Koselleck intensiv erforscht hat. Der Begriff hat stets eine zeitliche Dimension: Das griechische ‚Krisis‘ meinte das „Urteilen und Handeln unter Zeitdruck“. Im 18. Jahrhundert avancierte Krise zu einem „geschichtsphilosophischen Grundbegriff“, die „jeweils eigene Zeit“ wird seither als Krise erfahren.

Koselleck unterschied idealtypisch drei semantische Modelle der Zeitdiagnostik: Erstens die Geschichte als Dauerkrise, in der jede Situation dem Zwang zur Entscheidung untersteht – der „Normalzustand“ (Popper) komplexer Gesellschaften. Zweitens die Krise als Periodenbegriff, als Verdichtung von Konflikten, deren Entladung zu einer neuen Situation führt – ein Prozess, der sich wiederholen kann und Raum für Praktiken des Vergleichens öffnet, etwa mit der Spanischen Grippe. Drittens die Krise als Letztentscheidung, als Wende hin zu einer ganz anderen Zukunft, als Revolution (Koselleck 2006).

Alle drei Koselleckschen Typen sind nach derzeitigem Kenntnisstand auch in der gegenwärtigen Krisenkommunikation zu finden – von Normalzustand, über Verdichtung bis hin zur Revolution ist alles dabei.

Doch seit den globalen Krisen der 1970er Jahre ist die Verschränkung von Krisendiagnose und Zukunftserwartung weitgehend verschwunden, wenngleich die Krise als Letztentscheidung immer wieder durchscheint, als Möglichkeit, sich des Kapitalismus dauerhaft zu entledigen, oder in der Drohgebärde einer negativen Zukunft bar jeder Freiheitsrechte. Die Erwartung, durch bestimmte Handlungen zu einer besseren Zukunft zu gelangen, war in den 1970er Jahren auch deshalb abhandengekommen, weil Krisen nun vor allem global und nicht allein national zu bewältigen waren. Zugleich wurden Krisen als mit anderen vernetzt gedacht, als Teil eines größeren Krisengeschehens (Graf 2020), so wie die globale Corona-Pandemie nicht wenigen als Teil der Klimakrise gilt.

Auch gegenwärtig, in Zeiten der Corona-Krise, soll durch Handlungen oder deren Unterlassungen in der Regel keine abstrakte Zukunft, sondern der konkrete status quo wiederhergestellt werden. Man sehnt sich in eine suspendierte, vergangene Gegenwart zurück, die von Arbeit außerhalb des Hauses, Kindern in Schule und Kita, selbstbestimmten sozialen Kontakten, Konsum und Mobilität geprägt ist.

Die Abfolge Vergangenheit, Krise, Zukunft ist einem muddling through gewichen, Ausgang ungewiss. Wie und ob sich die vielfältigen Erzählungen der Krise des Jahres 2020 zu einer großen Corona-Erzählung zusammenfügen, bleibt abzuwarten. Das Erzählen, die Wahrnehmung der Krise, ist zumindest ein erster Schritt vom Geschehen zur Geschichte.


Der Blog
Corona & Society: Nachdenken über die Krise
Was können Gesellschaft und Politik programmatisch-konzeptionell aus der Krise lernen?


Bruch oder Kontinuität, sozialer Wandel oder doch Verfestigung?

Doch Krisen haben nicht nur eine Semantik, sie haben sehr konkrete soziale und strukturelle Folgen. Der Trierer Historiker Lutz Raphael hat kürzlich einen Vorschlag gemacht, wie sozialer Wandel und Strukturen als „Referenzgrößen eines geschichtswissenschaftlichen Krisenbegriffs“ zu konzipieren wären. Auf drei Weisen solle man interdisziplinär Krisenanalyse betreiben (Raphael 2015): Erstens sei die Krise als „disruptives Ereignis“ zu verstehen, die Aufmerksamkeit sei folglich auf Unterbrechungen von Routinen und den möglichen Zäsur-Charakter von Krisen zu richten. Ob und wie Akteursgruppen auf der Mikro- und Makroebene krisenhafte Prozesse bewältigen, welche Konfliktformen dabei entstehen, wäre ebenfalls zu untersuchen.

Auf drei Weisen sollte man interdisziplinär Krisenanalyse betreiben.

Für die Corona-Krise könnte man dies vorläufig wie folgt beschreiben: Wie schnell das Virus sich global ausgebreitet hat, kann als Überraschungsmoment gelten, allerdings konnte dieses „disruptive Ereignis“ nicht nur in Deutschland durch Beobachtungen der Entwicklungen in Italien und den dadurch entstandenen Zeitvorsprung abgemildert werden. Wenngleich die Routineunterbrechung des Alltags gerade augenfällig ist, so laufen andere einfach weiter, die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit in Familien genauso wie die üblichen Konfliktlinien und Interessenkonstellationen in der öffentlichen Debatte.

Zweitens fragt Raphael nach dem „Innovationspotential“ von Krisen – auch, um den Blick auf „die Varianten historischer Entwicklungen“ zu lenken, zum Beispiel auf nationale Problemlösungsstrategien. Es macht derzeit einen entscheidenden Unterschied, ob ein Land eine populistische Regierung hat oder nicht – trotz geographisch eigentlich günstiger Lage zur Eindämmung einer Pandemie hat Großbritannien die höchste Anzahl von Toten in Europa. Entstehen aus der Krise neue Modelle dafür, wie man Firmen, Schulen und Universitäten resilienter für künftige Pandemien machen könnte? Reagieren Regierungen auf die Tatsache, dass es Pandemien und Seuchen zu eigen ist, soziale Ungleichheit zu verschärfen und zu verdauern? Oder bleibt doch wieder alles beim Alten?

Für die Kinderbetreuung geht es nur um die Wiedereröffnung von Kitas und Schulen, nicht um neue Konzepte, obwohl flexiblere Arbeitszeitmodelle für Eltern längst vorliegen. Stattdessen tragen vornehmlich Frauen die Lasten dieser Situation. Nicht nur Innovationen, sondern ebenso das Verfestigungspotenzial globaler Krisen sind damit Thema der sozialen Struktur der Krise.

Damit ist schon Raphaels nächster Punkt genannt, die Nebenfolgen der Krise, die sich gegenwärtig noch nicht abschätzen lassen. Erahnen kann man jedoch: Es handelt sich nicht um einen geradlinigen, sondern um einen facettenreichen Prozess, die Pandemie zieht weitere Krisen nach sich. Um nur ein Beispiel zu nennen: Welche Folgen hat die Krise für Bildungschancen von Kindern? Wird sie Kinder aus sogenannten bildungsfernen Schichten nachhaltig treffen, weil sie das Lernen schneller verlernen?

Wer erzählt die Krise? Die soziale Dimension der Krisenkommunikation

Gerade für eine pandemische Krise überzeugt der Ansatz, ihre soziale Dimension, ihre Struktur zu untersuchen. Doch die Krisenkommunikation, aus der sich Krisensemantik herausschälen lässt, hat selbst eine soziale Dimension: Von der Krise erzählen noch viele, aber nicht alle werden auf die gleiche Weise gehört oder gelesen. Noch deutlicher wird es, wenn es darum geht, wer die Krise wirkmächtig deutet, wer sie definiert, wer als Experte gilt.

Vielleicht zeigt die noch vielstimmige Krisenkommunikation jedoch nicht nur die Friktionen zwischen Erleben, Deuten und Entscheiden, sondern auch, wie neue Ungleichheiten entstehen und alte sich verfestigen. So gedacht könnte Krisenkommunikation eine Brücke von der Mikroebene der Familie über die Mesoebene der ExpertInnen hin zur Makroebene der EntscheidungsträgerInnen bilden, globale Perspektiven fest im Blick. Denn das Krisengeschehen der Corona-Pandemie hat eine facettenreiche Geschichte, die es dezentral und vielstimmig zu erzählen gilt.


Literatur

Graf, Rüdiger: Zwischen Handlungsmotivation und Ohnmachtserfahrung – Der Wandel des Krisenbegriffs im 20. Jahrhundert, in: Bösch, Frank u. a. (Hrsg.): Handbuch Krisenforschung, Wiesbaden 2020, S. 17-38.

Koselleck, Reinhart: Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ‚Krise‘, in: ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 203-217.

Raphael, Lutz: „Gescheiterte Krisen“. Geschichtswissenschaftliche Krisensemantiken in Zeiten postmoderner Risikoerwartung und Fortschrittskepsis, in: Graf, Friedrich Wilhelm u. a. (Hrsg.): Geschichte intellektuell. Theoretische Perspektiven, Tübingen 2015, S. 78-92.

Autorin

Birte Förster

Uni Bielefeld
Dr. Birte Förster forscht am Arbeitsbereich „Globalgeschichte – translokale Verflechtungsgeschichte“ der Uni Bielefeld zur Machtgeschichte der Dekolonisierung Afrikas und ist assoziiertes Mitglied des Sonderforschungsbereichs „Praktiken des Vergleichens". Sie schreibt unter anderem für die FAZ, die SZ und Die ZEIT.

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