Seit März 2025 tagt der 21. Bundestag – die neue Bundesregierung ist seit Mai im Amt. Mit 630 Abgeordneten ist das Parlament kleiner als zuvor – und noch weniger vielfältig. Nur 230 der Mandate gingen an neue Gesichter. Der Frauenanteil ist weiter gesunken und liegt mit 32,4 Prozent deutlich unter dem gesellschaftlichen Anspruch der Parität. Auch in anderen Vielfaltsdimensionen zeigt sich ein klares Missverhältnis: Der Bundestag ist älter, männlicher, akademischer und deutlich weniger migrantisch geprägt als die Gesellschaft, die er vertreten soll. Nur 11,6 Prozent der Abgeordneten haben einen Migrationshintergrund – bei einem Anteil an der Bevölkerung von mehr als 27 Prozent. Auch Arbeiter:innenkinder, Alleinerziehende oder Menschen mit Behinderung sind kaum vertreten. Diese Repräsentationslücke ist kein Zufall – sie ist das Ergebnis struktureller Hürden, bestehender Machtverhältnisse und fortgeschriebener Trends.
Die Frage, wie Parteien angesichts der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit die politische Repräsentation stärker fördern können, stand im Zentrum des Roundtables am 20. Mai 2025 – veranstaltet im Rahmen der Reihe #DemocraticFutures, die von Das Progressive Zentrum gemeinsam mit dem Zentrum Liberale Moderne und der Hertie Stiftung ausgerichtet wird. Bei den #DemocraticFutures kommen Expert:innen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammen – über politische Lagergrenzen hinweg. Als Speaker:innen mit dabei waren Awet Tesfaiesus (MdB, Bündnis 90/Die Grünen), Johannes Volkmann (MdB, CDU), Hakan Demir (MdB, SPD) sowie Dr. Benjamin Höhne, Politikwissenschaftler und Parteienforscher an der TU Chemnitz. Moderiert wurde die Veranstaltung von Luisa Hofmeier von der gemeinnützigen Hertie Stiftung. Das vertrauliche Setting eröffnete auch dieses Mal Raum für offene Gespräche: für kontroverse Diskussionen ebenso wie ehrliche Selbstkritik und den Austausch über neue Perspektiven und kreative Pfade hin zu einer inklusiveren und zukunftsfähigen Demokratie.
Deutlich wurde, wo es parteiübergreifend sowie im Dialog mit Wissenschaft und Zivilgesellschaft gemeinsame Einschätzungen gibt – ebenso jedoch, wo die Perspektiven auseinandergehen: ob in den normativen Prämissen der Problemanalysen oder den strategischen Prioritäten der demokratischen Parteien.
Repräsentation: Deskriptiv, substanziell – oder beides?
Zentraler Diskussionspunkt war die grundsätzliche Unterscheidung zwischen deskriptiver (Wer ist vertreten?) und substanzieller Repräsentation (Wessen Interessen werden vertreten?). Sicherlich, so der Tenor der Diskussion, können Männer feministische Politik betreiben, Westdeutsche ostdeutsche Belange berücksichtigen oder Akademiker:innen sich für Arbeiter:innen einsetzen. Doch ohne direkte Repräsentation verlieren marginalisierte Gruppen schneller an politischer Sichtbarkeit, fallen ihre Belange unter den Tisch. Auch neuere Studien belegen: Gruppen, die nicht im Parlament vertreten sind, sind auch seltener Adressat:innen politischer Entscheidungen. Ein:e Teilnehmer:in stellte klar:
„Ohne Frauen in der Politik hätten wir nie über Kinderbetreuung gesprochen. Perspektiven schaffen Agenden.“
Eine andere Position hingegen bemühte den Fokus auf die qualitative opportunity statt auf das qualitative outcome. Entscheidend sei nach dieser Auffassung letztlich nicht die konkrete Besetzung im Bundestag, sondern dass alle Bürger:innen die gleichen Chancen und Zugänge zur politischen Teilhabe hätten. Aus dieser normativen Perspektive ist Demokratie in erster Linie nicht durch das Wahlergebnis allein legitimiert, sondern durch die Fairness ihres Verfahrens. Dem gegenüber stand die Auffassung, dass nicht nur bessere Zugangsbedingungen zu besseren Ergebnissen führen, sondern auch umgekehrt: Eine höhere Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen entfalte eine starke Symbolwirkung, etwa als Vorbild für den Parteibeitritt oder als Ermutigung, sich aktiver am gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen. Gegenwärtig erlebten wir etwa noch zu oft, dass marginalisierte Gruppen ihr Wahlrecht aufgrund mangelnder Selbstwirksamkeitswahrnehmung nicht wahrnehmen.
Ganz gleich wo wir also anfangen: Repräsentation und Responsivität sind eng verknüpft oder wie es ein:e Teilnehmer:in pointiert fasste:
„Repräsentation ist keine Garantie für Veränderung, aber sie verbessert die Voraussetzungen dafür.“
Ob durch deskriptive, substanzielle Repräsentation oder das Zusammenspiel aus beiden: Gerade in Anbetracht rechtspopulistischer Erfolge gilt es, das Gefühl zu stärken, dass Politik die eigenen Anliegen, Sorgen und Lebensrealitäten wirklich berücksichtigt. Dieses Gefühl gilt es nicht nur emotional überzeugender zu vermitteln, sondern auch durch konkretes politisches Handeln glaubwürdig zu untermauern.
Repräsentation priorisieren – aber für wen und wie?
Ob Arbeitsgemeinschaften zu Migration und Vielfalt, Diversitätsräte, Statute oder (Frauen-)Quoten: Das Bemühen um eine breitere Repräsentation zeigt sich parteiübergreifend. Doch unterscheiden sich die Vorstellungen darüber, wer repräsentiert werden soll und wie hoch das Thema auf den jeweiligen Parteiagenden priorisiert wird, zum Teil erheblich.
Die Grünen etwa haben bereits 1986 Frauenpolitik in ihrer Satzung verankert und seit 2020 ein eigenes Diversitätsstatut eingeführt. In der SPD wäre bei der Besetzung von Sprecher:innen- und Minister:innenämtern in der aktuellen Legislatur klar gewesen: Vielfalt ist keine Option, sondern Voraussetzung. Dennoch, so wurde angemerkt, gebe es auch im progressiven Lager Luft nach oben – vor allem, was die innere Haltung betrifft. Es gehe nicht nur um Programme und Strukturen, sondern darum:
„Menschen mit Migrationsgeschichte nicht als bedürftige Gruppe, sondern als integralen Teil der Gesellschaft zu begreifen.”
Die Union entschied sich erst 2022 zur Einführung einer Frauenquote – ein Schritt, der parteiintern, insbesondere innerhalb der Jungen Union, auf anhaltende Skepsis stößt. Kritisiert wurde in diesem Zusammenhang nicht nur das Instrument selbst, sondern auch die grundsätzliche Schwierigkeit, Quoten politisch konsistent zu gestalten: Wer soll durch sie berücksichtigt werden – und wer nicht? Dabei wurde deutlich, dass das Repräsentationsverständnis der Union viel stärker vom Lokalen geprägt ist; der Regionenproporz spiele eine zentrale Rolle. Entsprechend groß ist die Sorge, dass dieses Prinzip durch das neue Wahlrecht unter Druck gerät. Als Beispiel wurde im Rahmen der Diskussion die Stadt Darmstadt genannt, die aktuell durch keine:n direkt gewählte:n Abgeordnete:n im Bundestag vertreten ist.
Auch die anwesenden Wissenschaftler:innen beschrieben in Hinblick auf das neue Wahlrecht eine Verschiebung hin zu einem klassischen Verhältniswahlrecht – mit weitreichenden Folgen. Die Bedeutung von Listenplatzierungen hat zugenommen; damit rücken parteiinterne Faktoren wie Flügelproporz, Netzwerke und parteipolitisches Kapital stärker in den Vordergrund. Eine erneute Gesetzesanpassung sei in der neuen Legislatur nicht auszuschließen.
Zwar wird in vielen Parteien auf regionale Ausgewogenheit und Geschlechterverhältnisse geachtet, andere Diversitätsdimensionen wie soziale Herkunft, Berufserfahrung außerhalb der Politik oder Migrationsgeschichte würden hingegen deutlich seltener systematisch berücksichtigt. Ein:e Diskussionsteilnehmer:in brachte das Problem prägnant auf den Punkt:
„Wir haben in der Vergangenheit viele Boxes getickt – aber zentrale Bereiche ausgelassen.“
Dies betreffe unter anderem die soziale Zusammensetzung des Bundestags: Der Anteil von Jurist:innen und Politikwissenschaftler:innen ist überproportional hoch, während Berufe wie Handwerk, Pflege oder Industrie kaum vertreten sind. Mit einem Anteil von 41 Prozent Nicht-Akademiker:innen in ihrer Fraktion besetzt ausgerechnet die AfD eine bislang vernachlässigte Repräsentationslücke – und nutzt diese auch strategisch für ihre elitenkritische Erzählung, die gesellschaftlich Resonanz findet. In anderen Diversitätsdimensionen hingegen schneidet sie deutlich schlechter ab. Auch im Vergleich der Mitgliederzahlen liegt sie sehr deutlich hinter den demokratischen Parteien zurück – was im Widerspruch ihrer medialen Selbstdarstellung als „Kümmererpartei“ steht.
Erfahrung bewahren, Hürden abbauen: Wege zu einer inklusiveren Politik
Aus politikwissenschaftlicher Sicht sei klar: Bestimmte gesellschaftliche Gruppen finden systematisch keinen Zugang zur politischen Repräsentation. Anders als etwa in den USA spielt der finanzielle Aspekt in Deutschland eine geringere Rolle, und auch der Bildungsweg ist – anders als in Frankreich – nicht der entscheidendste Faktor. Zentral ist den Diskutant:innen zufolge hierzulande vor allem eines: Sitzfleisch. Politische Karrieren – insbesondere in den etablierten Parteien und großen Landesverbänden – erforderten langes, kontinuierliches Engagement in Partei- und Gremienarbeit. Doch genau das können viele nicht leisten – sei es aus Zeitgründen, familiären Verpflichtungen oder weil ihnen die Strukturen fremd bleiben. Die Folge: eine systematische Schieflage bei der politischen Teilhabe.
So offenbarte auch die Debatte um Quereinstiege einen spannungsreichen Zielkonflikt: Einerseits gilt parteiinterne Erfahrung als wichtiges Rüstzeug für das politische Handwerk – wer Mehrheiten organisieren, verhandeln oder große Gruppen überzeugen will, profitiert von gelebter Parteipraxis. Andererseits braucht es dringend neue, auch nicht-akademische Perspektiven, um politische Institutionen für breitere gesellschaftliche Gruppen zu öffnen. Entscheidend ist daher nicht ein „Entweder-oder“, sondern ein kluges Verhältnis aus Erfahrung und Erneuerung. Viele Parteimitglieder engagieren sich ohnehin ehrenamtlich – sie bringen sowohl Berufsbiografien als auch politische Praxis mit. Genau deswegen seien aber inklusive Engagementstrukturen entscheidend.
Ohne Basis kein Boden: Wenn die Verankerung verloren geht
Doch gerade die ehemaligen Volksparteien würden vielerorts noch zu sehr in den Routinen der Bonner Republik verharren. Diese Zeit prägten stabile Beziehungen zu Vereinen, Kirchen, Freiwilligen Feuerwehren – die Parteien waren vor Ort präsent, anschlussfähig und ansprechbar. Heute zeigt sich eine andere Lage: Mitgliederschwund, erodierende Netzwerke, schwindende Sichtbarkeit. Gleichzeitig sind von den verbleibenden Mitgliedern immer weniger aktiv. Die Folge ist eine Negativspirale: Weniger Mitglieder führen zu weniger Aktivitäten vor Ort, zu geringerer gesellschaftlicher Anbindung – und damit zu noch weniger Sichtbarkeit. Zu oft entsteht der Eindruck, Parteien seien nur dann präsent, wenn Wahlen anstehen. Versuche, verlorene Milieus zurückzugewinnen, bleiben oft zu punktuell – und ohne nachhaltige Bindung. Kurzzeitige Eintrittswellen, wie sie etwa im Umfeld der Labour-Partei unter Jeremy Corbyn zu beobachten waren, haben zwar für kurzfristige Mobilisierung gesorgt, jedoch keine strukturelle Erneuerung bewirkt.
Gerade auf kommunaler Ebene – dem klassischen Einstiegspunkt für politische Karrieren – zeigen sich massive Zugangshürden. Auch die sogenannte „Ochsentour“ über Parteiarbeit, Ehrenämter und Jugendorganisationen setzt nicht nur langen Atem voraus, sondern auch einen hohen Grad an Flexibilität und Verfügbarkeit. Für viele – etwa Alleinerziehende, Berufspendler:innen oder Menschen ohne akademischen Hintergrund – sind diese Anforderungen schlicht nicht realistisch. Hinzu kommt: Die bestehenden Strukturen sind häufig homogen besetzt (Wer fühlt sich hier richtig?) und funktionieren nach eingespielten Routinen, die nur schwer mit den Lebensrealitäten einer diversen Gesellschaft vereinbar sind. Digitale Beteiligungsmöglichkeiten, familienfreundliche Sitzungszeiten oder alternative Formen der Mitgestaltung fehlenoder werden nicht systematisch mitgedacht. Um diese Dynamik zu durchbrechen, so ein:e Teilnehmer:in brauche es eine Öffnung der Parteien hin zur Gesellschaft: Das politische Ökosystem hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten grundlegend verändert – darauf müssen Parteien reagieren.
Brücken bauen: Wie aus Ansprache Teilhabe wird
Kritisch-konstruktiv wurde diskutiert, wie Parteien neue Perspektiven erschließen und gesellschaftlich wieder anschlussfähiger werden können. Ein zentraler Vorschlag waren partizipative Formate wie parteiinterne Bürgerräte: Sie könnten dazu beitragen, bisher ungehörte Stimmen jenseits etablierter Gremienstrukturen in innerparteiliche Debatten einzubinden. Auch eine konsequent digitale Aufstellung wurde als möglicher Hebel benannt – nicht nur, um Beteiligung zeit- und ortsunabhängig zu ermöglichen, sondern auch, um Schwellen für politisches Engagement zu senken. Digitale Vernetzungsplattformen wie BUNTgrün wurden als Best-Practice-Beispiele dafür diskutiert, wie marginalisierte Perspektiven über Wahlkreisgrenzen hinweg sichtbar gemacht und vernetzt werden können – mit dem Ziel, Empowerment durch Austausch zu fördern und Interessen wirksam auf Bundesebene einzubringen.
Gleichzeitig wurde deutlich: Parteien müssen aktiv auf zivilgesellschaftliche Akteure zugehen, Partnerschaften eingehen und Allianzen bilden. Nur so können sie ihre Rolle als Mittler zwischen Staat und Gesellschaft neu beleben – und verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Öffnung ist dabei keine abstrakte Forderung, sondern beginnt konkret vor Ort: Aufsuchende Formate, niedrigschwellige Begegnungsräume und eine Kultur der Einladung sind zentrale Voraussetzungen dafür, dass politische Teilhabe nicht exklusiv bleibt. Ein Beispiel aus Berlin-Neukölln verdeutlichte das Potenzial aufsuchender Formate: Gespräche dort führen, wo Menschen ihren Alltag verbringen – in Kneipen, Vereinsheimen, auf der Straße – nicht nur in den formalen Räumen von Parteibüros. Zentral sei hierbei die Bereitschaft zu Streitgesprächen auf Augenhöhe und der aktiven Toleranz gegenüber anderen politischen Vorstellungen. Nur so begeistere man Menschen wieder in den demokratischen Diskurs zu treten.
Auch institutionelle Reformen kamen zur Sprache – etwa das Wahlrecht. Ein diskutierter Vorschlag sah die Einführung von Zwei-Personen-Wahlkreisen mit verbindlicher Parität vor. Ziel: mehr Vielfalt, bessere Repräsentation, höhere Legitimität. Andere Teilnehmer:innen betonten Alternativen wie verbindliche Zielquoten mit Sanktionen bei Verfehlung – nach dem Vorbild des französischen Paritätsgesetzes. Demokratische Innovationen wie Bürgerräte könnten Parteien nicht ersetzen, wohl aber sinnvoll ergänzen – und damit dazu beitragen, Menschen (wieder) an politische Selbstwirksamkeit und Teilhabe heranzuführen. Konsens war: Es gibt kein Patentrezept, aber mutige Reformschritte sind möglich – und notwendig. Entscheidend dabei: Engagementförderung darf nicht bei der Ansprache enden. Auch die Strukturen, in die sich Menschen einbringen sollen, müssen reformiert werden.
Ausblick: Zwischen Anspruch und Aufbruch
Sind die Parteien am Ende ihrer Möglichkeiten? Nein – darin waren sich die Teilnehmer:innen einig. Denn erstens dürfen sie es nicht sein: Als Scharnier zwischen Staat und Gesellschaft, in ihrer advokatorischen und aggregierenden Funktion, bleiben sie unersetzlich. Und zweitens sind – wie die Diskussion gezeigt hat – die Potenziale ihrer Modernisierung bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.
Deutlich wurde jedoch auch: Es braucht mehr strategische Auseinandersetzung mit dem Thema in Parteizentralen, mehr koordinierten Austausch über föderale Ebenen hinweg, mehr gemeinsame Reflexion und mehr Mut zu neuen Formaten.
Die Veranstaltung bot in diesem Sinne reichlich Denkstoff: kontroverse Perspektiven, aber vor allem auch eine geteilte Erkenntnis. Die Stabilität unserer Demokratie hängt wesentlich davon ab, ob Menschen sich gehört, gesehen – ja: repräsentiert – fühlen. Rechtsextreme Wahlerfolge machen das Thema dringlicher denn je. Die Modernisierung verkrusteter Strukturen und die Entwicklung innovativer Ideen für eine demokratische Zukunft – das bleibt eine geteilte, parteiübergreifende Verantwortung.