„Puffert der Staat alles ab, reduziert das den Druck zur Veränderung“

Einschätzungen zur 200-Milliarden-Gaspreisbremse von unserem Vorstand Wolfgang Schroeder im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“.

Die Bundesregierung will die hohen Kosten für Strom, Gas und andere Energiequellen abfedern – unter anderem mit der jüngst beschlossenen Gaspreisbremse mit einem Volumen von bis zu 200 Milliarden Euro. Der Vorstand des Progressiven Zentrums, Wolfgang Schroeder, betont im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“, dass der Staat ärmeren Bürger:innen in der Krise helfen müsse. Langfristig könnten derart riesige Hilfsprogramme aber zum Problem werden.

Schwäbische Zeitung: Herr Schroeder, können Sie sich noch an die Ölpreiskrise in den 1970er-Jahren erinnern? Hat der Staat damals auch mit Hilfspaketen versucht, die Bürger zu entlasten?

Wolfgang Schroeder: Im Vordergrund stand damals die Symbolik des verkehrsfreien Sonntags, die im Herbst/Winter 1973 an vier Wochenenden verordnet wurde. Damit hat die Bundesregierung ein Mittel eingesetzt, dass jedem Bürger klarmachen sollte, wie bedrohlich die Situation ist.

In der aktuellen Energiekrise ist die Erwartungshaltung groß, dass die Regierung die Bürger finanziell unterstützt – und niemanden zurücklässt. Hat sich die Anspruchshaltung gegenüber dem Staat verändert?

Es gibt die Erwartung, dass der Staat die Nachteile, Schwierigkeiten und Zumutungen, die mit den gegenwärtigen Krisen einhergehen, abpuffert und dafür auch die entsprechenden Instrumente einsetzt. Ein Problem dabei ist, dass sich die Regierung nicht nur auf diejenigen konzentriert, die es alleine nicht schaffen.

Denn nach unserem Sozialstaatsverständnis müssen auch diejenigen, die mit ihren Beiträgen das System am Laufen halten, den Eindruck haben, ihre Situation wird beachtet. Das macht die Hilfspakete so groß. Hinzu kommen aber auch Probleme, die in der staatlichen Steuerung verankert sind. Das heißt: Hat der Staat hinreichende Möglichkeiten, sich akut und schnell an diejenigen zu wenden, die besonders betroffen sind?

Fühlten sich die Menschen früher mehr als heute verantwortlich für ihre Situation?

Das lässt sich so nicht sagen. Denn die Vorstellung, dass existenzielle Not durch den Staat abgefedert werden muss, ist nicht neu. Frühere Krisen in der bundesdeutschen Sozialpolitik waren allerdings begrenzter, temporärer und weniger stark miteinander verflochten.

Jetzt dagegen sind wir mitten in einem Krisenprozess, dessen Ende wir nicht erahnen können, die Krisen sind umfassender und hängen stärker miteinander zusammen. Dies begründet und fordert das starke Eingreifen des Staates und birgt zugleich aber auch die Gefahr, dass die Selbsttätigkeit der Bürger unterfordert wird.

Wie passt es zusammen, dass die Bürger eine sehr klare Erwartungshaltung mit Blick auf staatliche Hilfen haben – aber Appelle zum Energiesparen mitunter als Belehrung empfinden?

Es gibt derzeit viele Debatten, die noch nicht zu Ende geführt sind – beispielsweise die Frage, wie das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ist und was die Aufgabe des Individuums und des Staates sein sollte. Das ist aber normal in einer liberalen, demokratischen Gesellschaft. Sie muss sich solchen Prozessen immer wieder aufs Neue stellen.

Ich würde mir allerdings wünschen, dass die Krise auch als Chance zum Umdenken genutzt wird. Es ist offensichtlich, dass unser Wirtschafts- und Konsummodell im Wandel ist. Ein anderer Umgang mit Energie, Ressourcen und der Umwelt ist im Prozess. Wenn der Staat jetzt alle Preissteigerungen von CO2-starken Prozessen und Produkten abpuffert, so reduziert dies auch den Druck zur Veränderung erheblich.

Also sollten Politiker eher noch mutiger werden in ihren Energiespar-Appellen, selbst wenn sie, wie Winfried Kretschmann nach seinem Waschlappen-Vorschlag, verlacht werden?

Ja, aber sie müssen den richtigen Ton treffen. Bürger, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können und nicht wissen, wie sie im Winter ihre Wohnung heizen, empfinden ein Plädoyer für den Waschlappen eher als unangemessen.

Deshalb bedarf es einer Kommunikation der Angemessenheit, sonst gerät diese Debatte leicht in Schieflage. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass die Regierenden wissen, in was für einer prekären Situation sie sind.

Es gibt einen breiten Konsens darüber, dass vor allem den Ärmsten geholfen werden muss. Wieso ist unsere ansonsten so leistungsorientierte Gesellschaft bereit, das so mitzutragen?

Wir haben eine etablierte sozialstaatliche Kultur. Die Menschen hierzulande wissen, dass viele unverschuldet in Armut oder in Arbeitslosigkeit leben. Dieses Denken in der Solidarität ist ein notwendiges Gegengift gegen die reine Leistungsorientierung.

Dazu hat auch der Neoliberalismus in den vergangenen 20 Jahren beigetragen. Diese Umverteilung in gigantischer Form, die da stattgefunden hat, hatte ja wenig mit Leistung zu tun. Vielmehr waren vielfach Leute zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle und haben die Taschen aufgemacht.

Hat die Solidarität der Stärkeren mit den Schwächeren in einer Gesellschaft nicht auch mit Eigennutz zu tun?

Durchaus ist das auch ein legitimes Motiv. Wenn es dem schwächeren Teil nicht gut geht, hat das Auswirkungen auf die anderen. Das ist übrigens auch eine der Wurzeln der modernen Sozialstaatlichkeit. Denn wenn gesellschaftliche Polarisierungen zunehmen, schmelzen die Gemeinsamkeiten, Unsicherheit und Kriminalität nehmen zu.

In solch tiefgreifenden Krisensituationen, wie wir sie jetzt haben, braucht es einen handlungsfähigen, demokratisch eingebetteten Staat, um Ausgrenzung abzuwehren, Spaltungen einzudämmen und Lösungsperspektiven aufzuzeigen. Dabei ist auch klar, dass der Staat nicht nur über die Gesetzgebungskompetenz verfügt; er hat auch die Kraft, eine bestimmte Form der institutionellen Solidarität zu verankern. Zugleich braucht es immer auch eine wachsame Zivilgesellschaft.

Es wird immer wieder gesagt, der russische Präsident Wladimir Putin setze darauf, mit Energieverknappung unsere Gesellschaft zu destabilisieren, weil er die Menschen hierzulande als Mimosen einschätzt. Wie sehen Sie das?

Das sind wir keineswegs. Wir leben in einer hochorganisierten, solidarischen Leistungsgesellschaft, die manchmal Gefahr läuft, die Leistung zu verabsolutieren. Aber diese Gesellschaft hat bei allen Belastungen und Momenten der Erschöpfung nach wie vor ein riesiges, kreatives Potenzial.

Die Herausforderung durch Putin könnte also auch eine Chance sein, bestimmte Korrekturen vorzunehmen – beispielsweise, die Bedeutung des Marktes, der Medien und des Zusammenspiels von staatlicher Gewalt und Zivilgesellschaft neu zu überdenken.

Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass der Unmut der Menschen über die hohen Energie- und Lebensmittelpreise zu einem „heißen Herbst“ führen könnte?

Diese Gefahr ist auf jeden Fall da, zumal sich in den vergangenen Jahren im Zuge der Migrations- und Corona-Krise ein eigenes, sich selbst stabilisierendes Milieu institutionalisiert hat, das ein Angebot an Verdrossene und gefühlt Abgehängte unterbreitet. Aber es ist eine Stärke der freien und offenen Gesellschaft, auch diese Gruppe zu akzeptieren.

Zudem handelt es sich nach wie vor um eine kleine Minderheit. Entscheidend für die Zukunft wird sein, dass die Mitte der Gesellschaft resilient bleibt gegenüber den Bemühungen der strukturell Unzufriedenen und sich nicht anstecken lässt. Bislang funktioniert dies ganz gut.

Die Fragen stellte Claudia Kling. Das Interview ist am 30. September 2022 auf der Webseite der „Schwäbischen Zeitung“ erschienen.

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