Zusammenfassung
Die EU ist mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine geht mit unverminderter Härte weiter. Die Verlässlichkeit der USA im transatlantischen Sicherheitsgefüge steht infrage. In Europa schreitet der Rechtsruck voran. Die Dringlichkeit der Transformationsaufgaben in der Wirtschaft steigt. Die Klimakrise spitzt sich zu. Die liberale Demokratie und die Idee eines vereinten Europas stehen massiv unter Druck. Die neue Bundesregierung von CDU/CSU und SPD hat im Koalitionsvertrag den Anspruch formuliert, in der EU eine starke Führungsrolle übernehmen zu wollen. In diesem Kontext untersucht die Langzeitstudie «Selbstverständlich europäisch!?», wie die Bürger:innen die Rolle Deutschlands in der EU bewerten und welches Auftreten sie sich von der Bundesregierung in Brüssel wünschen.
Die Langzeitstudie ist ein Projekt der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit dem Progressiven Zentrum und wurde 2025 zum siebten Mal in Folge durchgeführt.
Die wichtigsten Ergebnisse
Zustimmung für eine stärkere Führungsrolle Deutschlands in der EU
Die im Koalitionsvertrag umrissene europäische Stoßrichtung findet in der Gesellschaft breite Unterstützung. Etwa zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger (65,3 Prozent) bewerten eine stärkere Führungsrolle Deutschlands in der EU als eher (26,9 Prozent) oder sehr positiv (38,4 Prozent).
Abbildung A: Wie bewerten Sie das Ziel der neuen Bundesregierung, dass Deutschland in der EU künftig eine starke Führungsrolle einnehmen soll?

Plädoyer für eine kooperative EU-Politik der Bundesregierung
Neben der Zustimmung zu einer stärkeren Führungsrolle Deutschlands in der EU wünscht sich eine große Mehrheit der Befragten (68 Prozent) in Zukunft auch ein kooperatives Auftreten der Bundesregierung in Brüssel.
Abbildung B: Soll/Hat sich Deutschland Ihrer Meinung nach gegenüber anderen EU-Ländern eher kooperativ verhalten?

Migration und Integration, Verteidigung und Wettbewerbsfähigkeit sind oberste Prioritäten
Aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger handelt es sich bei den drei wichtigsten europapolitischen Prioritäten um Migration und Integration (56,0 Prozent), Sicherheit und Verteidigung (55,3 Prozent) und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit (46,1 Prozent). Zusätzliche gemeinsame Investitionen begrüßen die Befragten bei Verteidigung (52,1 Prozent), innere Sicherheit (45,5 Prozent), Forschung, Bildung und Innovationen (36,8 Prozent) sowie Wirtschaft (35,5 Prozent).
Unterstützung für eine europäische Verteidigungsunion
Mehr als die Hälfte der Befragten (56,5 Prozent) stimmen überein, dass europäische Verteidigung in erster Linie zur gemeinsamen Aufgabe werden soll. 20,8 Prozent plädieren für eine differenzierte Integration in diesem Bereich, z.B. in der Rüstungspolitik. Die Unterstützung für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik ist sowohl in Westdeutschland (58,5 Prozent) als auch in Ostdeutschland (48,7 Prozent) relativ hoch.
Schwindender Rückhalt für europäischen Klimaschutz
Für die Befragten haben andere politische Maßnahmen derzeit eine höhere Priorität als der Klimaschutz. Das ist eine Entwicklung, die sich vor allem in den letzten Jahren verstärkt hat. 2025 befürworten nur 24,8 Prozent mehr gemeinsame Ausgaben in diesem Bereich – im Jahr 2022 waren es noch 42,2 Prozent.
Vorteile der EU-Mitgliedschaft überwiegen; Zweifel am wirtschaftlichen Nutzen
Für die Mehrheit der Befragten überwiegen die Vorteile der EU-Mitgliedschaft (58,5 Prozent). Dennoch stehen für eine knappe relative Mehrheit der Befragten – wirtschaftlich gesehen – die Kosten (47,9 Prozent) über dem Nutzen (46,9 Prozent). Eine Mehrheit (58,6 Prozent) hält den finanziellen Beitrag Deutschlands zur EU für zu hoch.
Abbildung C: Anteil der Befragten, für die der wirtschaftliche Nutzen, der politische Nutzen und die Vorteile der EU überwiegen

Trends und politische Empfehlungen
Europa kooperativ mitgestalten
Die Befragten bewerten den Führungsanspruch der neuen Bundesregierung positiv, plädieren aber deutlich für ein kooperatives Auftreten. Die Bundesregierung sollte deshalb einen kooperativen Führungsstil in ihrer Europapolitik verfolgen und sich nicht aus nationalem Interesse für schnelle Lösungen über EU-Recht hinwegsetzen.
Europas wirtschaftlichen Nutzen vermitteln
Die Mehrheit der Befragten ist von den Vorteilen und dem politischen Nutzen der EU-Mitgliedschaft überzeugt und wünscht sich, dass Verteidigung, Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit zu Prioritäten deutscher EU-Politik werden. Eine ehrliche Debatte über europäische Lösungen kann verdeutlichen, dass hohe Erwartungen an die EU mit höheren Ausgaben einhergehen. Die neue Regierung sollte aktiv vermitteln, dass Deutschland von der EU-Mitgliedschaft wesentlich stärker profitiert, als es finanziell beiträgt.
Europas klima- und sozialpolitisches Versprechen nicht vernachlässigen
Wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit haben für die Befragten hohe Priorität. Diese Ziele können nicht auf Kosten von Klima- und Sozialpolitik erreicht werden. Im Gegenteil: Die Bewältigung der Klimakrise ist der Garant für Wettbewerbsfähigkeit und zentral für Sicherheit und die Resilienz der Demokratie. Die Bundesregierung sollte sich in der EU dafür einsetzen, dass der European Green Deal nicht weiter verwässert wird und Investitionen in Sicherheit auch sozial wirksam sind.
Europas Versprechen für Stabilität stärken
Im Kontext globaler Unsicherheit erscheint die EU als Ort der Stabilität. Deutschland hat die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger, sich für eine Union einzusetzen, die Grundbedürfnisse adressiert – auch über Verteidigung und Wirtschaftswachstum hinaus. Die neue Bundesregierung sollte finanzielle Verantwortung übernehmen, sodass die EU dieser Aufgabe gerecht werden kann.
Methode
Für die Studie „Selbstverständlich europäisch!? 2025 – Den Führungsanspruch kooperativ gestalten“, die in diesem Jahr zum siebten Mal erscheint, hat das Meinungsforschungsinstitut Civey im Mai 2025 online 5.000 Personen befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die Einwohnerinnen und Einwohner der Bundesrepublik Deutschland ab 18 Jahren.
Autor:innen
Before the Election: Insights from the US Industrial Heartlands
Foreign Policy for the Middle Classes: New Industrial Policy in Times of Geoeconomic Shift
New Progressive Ostpolitik for Europe
The European Election 2019: A Comparative Outlook at the European Election Campaigns in France, Germany and Poland

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