Glück auf, der Aufstieg kommt? Perspektiven aus Gelsenkirchen auf Gelsenkirchen

Gelsenkirchen steht vor immensen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen – und hat viel Potenzial. Ausgehend von dieser Prämisse hat das Consol Theater Gelsenkirchen das Progressive Zentrum beauftragt, Gespräche mit Menschen vor Ort zu führen. Der Auswertungsbericht sammelt ihre Erfahrungen, Sichtweisen und Wünsche und macht deutlich: Die Perspektiven auf die Stadt sind vielfältig und wecken starke Emotionen. Um das Potenzial Gelsenkirchens zu entfalten, braucht es Geld, Gehör und Gestaltungsmacht.

Das Progressive Zentrum hat 2022 zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung die Studie „Die Übergangenen – Strukturschwach & Erfahrungsstark“ veröffentlicht. Im Zentrum stand die Frage, wie Menschen aus strukturschwachen Regionen auf ihre Region blicken. Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Studie: Strukturschwache Regionen haben erhebliches Potenzial – das gesehen und genutzt werden muss. Mit brachliegenden Flächen, günstigem Wohnraum und einer entgegenkommenden Verwaltung können sie Zukunftsbranchen anziehen. Und: Ihre Bewohner:innen sind transformationserfahren – viele gesamtdeutsche Herausforderungen sind hier bereits Realität und die Menschen haben gelernt, mit ihnen umzugehen. 

Das Consol Theater Gelsenkirchen hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Potenzialen vor Ort nachzuspüren – in der Stadt mit der höchsten Arbeitslosigkeits- und Kinderarmutsquote Deutschlands. Im Rahmen des Projektes „Von Spuren, Pfaden und Zielen“ hat das Theater deshalb das Progressive Zentrum beauftragt, Gespräche mit rund 70 Menschen aus den Stadtteilen Bismarck, Schalke und Schalke-Nord sowie Workshops mit Theatermitarbeiter:innen durchzuführen. Ziel war es, Erfahrungen, Deutungsmuster, Ideen und Wünsche von Gelsenkirchener:innen in Bezug auf ihre Stadt zu sammeln und in ihrer Heterogenität und Vielfalt sichtbar zu machen. Die Aussagen können dabei keine Repräsentativität beanspruchen. 

Die Gespräche mit Spielerinnen einer Bingo-Gruppe, Schüler:innen einer Grundschulklasse, Stadtteilexpert:innen und Bürger:innen, die zufällig im Stadtteilladen, in der Kneipe oder der Tankstelle angetroffen wurden, konzentrierten sich auf vier Themenbereiche:

  1. Missstände: Für viele Befragte befindet sich Gelsenkirchen in einer Abwärtsspirale aus Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität. Das Stadtbild sei von Geschäftesterben, Müll und Verwahrlosung geprägt – im Gegensatz zu früher, als die Stadt durch Bergbau und Stahlindustrie florierte, wie einige Gelsenkirchener:innen bemerkten.
  1. Miteinander: Während einige Gesprächspartner:innen den Zusammenhalt in der Stadt positiv hervorhoben, meinten viele, dass die Anonymität und Rücksichtslosigkeit zunehme. Sie erklärten dies mit Sprachbarrieren, kulturellen Verschiedenheiten und einer politischen Spaltung durch die AfD. 
  1. Mitgestalten: Auch wenn einige Befragte von verschiedenen Möglichkeiten, ihre Stadt mitzugestalten, berichteten, fühlten sich viele durch formale Hürden und eine lückenhaften Umsetzung in ihrem Engagement ausgebremst. Selbstwirksamkeit erfahren viele in ihrem Beruf.
  1. Möglichkeiten: Viele Gesprächspartner fühlen sich mit ihrer Stadt eng verbunden – sie assoziieren Gelsenkirchen mit Heimat, Schalke 04, Bergbau und gelebter Vielfalt. Die Stadt sei grün, bezahlbar und lebenswert. Sie biete Raum für Veränderung – der Wille zum Ausprobieren sei hier größer als anderswo – und ziehe Menschen an, die wirklich etwas bewegen wollen.

Die vier Themenkomplexe zeigen: Auch wenn negative Sichtweisen in den Gesprächen dominierten, gibt es zwischen Abwärtsspirale und Aufbruchstimmung kein Schwarz-Weiß. Auffällig war außerdem: Wer das Gefühl hat, etwas bewegen zu können, blickt zuversichtlicher in die Zukunft. Und: Viele Menschen nutzten den Gesprächsrahmen, um Emotionen zu teilen. Dazu gehörten immer wieder Enttäuschung, Trauer, Wut und Angst, häufig Stolz, vereinzelt auch Begeisterung, Mut und Zuversicht. In der ehemaligen SPD-Hochburg Gelsenkirchen erzielte die AfD bei der Bundestagswahl 2025 mit 24,7 Prozent ihr zweitbestes Zweitstimmenergebnis in den alten Bundesländern. Auch wenn in den Gesprächen keine Parteienpräferenzen abgefragt wurden, können sie vielleicht dazu beitragen, diesen politischen Wandel auf einer emotionalen Ebene etwas nachvollziehbarer zu machen.

Viele Menschen erklärten sich bereit, an den Interviews teilzunehmen. Das zeigt: Sichtbarkeit und Gehör sind ihnen wichtig. Die in den Gesprächen geäußerten Wünsche und Forderungen machen deutlich, dass sich viele Menschen darüber hinaus Investitionen und Mitgestaltungsmöglichkeiten wünschen: Investitionen in den Sozialbereich, in Quartierszentren, kostenlose Freizeit- und Kulturangebote, in Aufenthalts- und Begegnungsorte und Präventionsprogramme gegen Gewalt und Drogenmissbrauch, jeweils mit einem Schwerpunkt auf Kinder und Jugendliche. Und Beteiligungsprozesse, die es allen Gelsenkirchener:innen und insbesondere jungen Menschen ermöglichen, unbürokratisch ihre Ideen einzubringen und so etwa bei der Gestaltung von Räumen in ihrer Nachbarschaft mitzuwirken. Dieser Dreiklang aus Gehör, Geld und Gestaltungsmacht entspricht im Wesentlichen den Handlungsempfehlungen der Autor:innen der „Übergangenen“-Studie, die Bezug nehmen auf strukturschwache Regionen in ganz Deutschland.

Das Projekt  „Von Spuren, Pfaden und Zielen“ des Consol Theaters Gelsenkirchen wird im Programm Zero – Klimaneutrale Kunst- und Kulturprojekte der Kulturstiftung des Bundes von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert.

Autor

Carl Schüppel

Junior Projektmanager
Carl arbeitet als Junior Projektmanager im Bereich Resiliente Demokratie. Sein Fokus liegt auf Demokratiepolitik, politischer Strategie und strukturschwachen Regionen.

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