Um 20:15 Uhr betritt Anne Rabe die Bühne. Beste Sendezeit. Das Publikum steht bzw. sitzt; die Rede der Autorin, das werden wir gleich hören, auch. Viel ist da schon diskutiert worden an diesem 5. Dezember im Allianz Forum, an dem seit dem frühen Nachmittag mehr als 500 Entscheider:innen aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft auf Einladung von Das Progressive Zentrum zum Politischen Symposium samt anschließendem Winterfest zusammengekommen sind. Auf der Agenda: In Fachgruppen über Progressive Sicherheit und die Reform des Modells Deutschland zu debattieren. Über soziale Sicherheit, Klimapolitik als Daseinsvorsorge und die Frage, wie man gute Jobs in strukturschwache Regionen bekommt. Über die Frage der richtigen Industriepolitik und wie Deutschland wieder zum Innovationstreiber werden kann – und welche Investitionen es auf deutscher und europäischer Ebene braucht.
Ja, als Anne Rabe die Bühne betritt, ist die Frage nach den Lösungen schon intensiv und in vielen Facetten besprochen worden – etwas Entscheidendes aber noch nicht.
Früher habe man leichter über Politik diskutiert, sagt Anne Rabe. Ohne Fake News und rassistische Erzählungen – heitere Abende waren das. Und man habe auch öffentlich diskutiert und gestritten für die Demokratie. Heute gehe niemand mehr auf die Straße, wenn der AfD Landesverband Bayern konkrete Pläne zur Ausweisung von Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft konzipiert. Oder wenn eine Woche nach Trumps Behauptung, haitianische Migrant:innen in Springfield, Ohio würden Haustiere stehlen und essen, ein CSU-Politiker behaupte, die Grüne Jugend wolle den Menschen ihre Haustiere wegnehmen und Ampel-Politiker im Chor mit der AfD eine Brot-Bett-Seife-Politik für abgelehnte Asylbewerber:innen fordern. “Mir geht die Poesie abhanden, in Anbetracht dessen, was vor meinen Augen passiert”, sagt Anne Rabe – Poesie, die Zuversicht der Literat:innen.
Anne Rabe beschreibt an diesem Abend abseits der vergleichsweise nüchternen fachlichen Diskussionen ein grassierendes politisches Gefühl, das einem progressiven Politikverständnis, das in der Natur der Sache auf Zuversicht und Zukunftslust baut, so gar nicht in den Kram passt: Unsicherheit, Pessimismus, nicht selten auch: Wut. Wenngleich der Trend schon länger dahin geht: Jüngsten Zahlen des Umfrageinstituts Civey zufolge empfinden seit Anfang 2022 mehr Menschen in Deutschland eher Unsicherheit als Zuversicht. Das scheint plausibel mit Blick auf den Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar desselben Jahres; es ist aber insofern bemerkenswert, als Zuversicht vor vier Jahren noch das bestimmende Gefühl war – und sich seitdem nahezu halbiert hat.
Die Themenfelder, die die Zuversicht der Deutschen gekostet hat, sind Wirtschaft und Sicherheit. Das unterstreicht auch Ökonom Jens Südekum im politischen Gespräch mit Armand Zorn, stellvertretender Sprecher für Finanzpolitik in der SPD-Bundestagsfraktion, das taz-Co-Chefredakteurin Ulrike Winkelmann moderierte. Die Unsicherheit sei DAS zentrale Problem, so Südekum: „Der chaotische Kurs der Ampel hat seinen Beitrag dazu geleistet, aber der Kern der Verunsicherung ist fundamentaler.” Die Wirtschaftskrise ist real, die beschworenen Szenarien düster.
Das Modell Deutschland – jahrzehntelang Garant für Wachstum und Wohlstand – funktioniert in der neuen geopolitischen Lage nicht mehr. Tatsächlich steckt es bereits seit längerem in der Krise, wie wir im Rahmen unseres Politischen Symposiums analysiert haben. „Das Modell Deutschland braucht eine tiefgreifende Reform – flankiert durch eine Politik progressiver Sicherheit, die innere und äußere Sicherheit sowie soziale, ökologische, geopolitische und technologische Dimensionen zusammen denkt, statt die Debatte an der Realität der Herausforderungen vorbei auf migrationspolitische Ängste zu verengen”, so Wolfgang Schroeder, Vorsitzender von Das Progressive Zentrum, im Rahmen seiner Keynote zur politischen Rahmung des Tages.
Das ist der progressive Habitus: konzise Problemanalyse, Lösungsvorschlag, Debatte, Umsetzung, auf die Schulter klopfen, weiter geht´s. Zack. Das ist lösungsorientiert und konkret und wichtig. Aber es ist auch ein Problem: dass man die fehlende Zuversicht, die Unsicherheit, die Anne Rabe ebenso spürt wie Otto Normalverbraucher:innen, dabei ignoriert in dem Glauben, sie werde sich schon verflüchtigen.
Aber das tut sie nicht. Stattdessen kommt noch ein Gefühl bei den Bürger:innen hinzu: das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden – keine gute Ausgangssituation, um über politische Lösungen zu sprechen. Das sei einer der zentralen Fehler progressiver Politik gewesen, so der neue Grünen-Co-Vorsitzende Felix Banaszak: auf Ängste mit Statistiken geantwortet zu haben statt mit Empathie – und so das Gefühl von Distanz, Abgehobenheit und einer akademisierten Weltsicht geschürt zu haben. Politik funktioniere nur mit einer großen Portion Empathie, sekundiert SPD-Generalsekretär Matthias Miersch in dem von Paulina Fröhlich, stellvertretende Geschäftsführerin von Das Progressive Zentrum, moderierten Gespräch. ,. Und auch auf persönlicher Ebene gibt es beides in diesen Zeiten des Umbruchs: Gewinn und Verlust. Miersch in seiner neuen Rolle als SPD-Generalsekretär, in der er nach 20 Jahren im Politikbetrieb plötzlich große Gestaltungsmacht erfährt – aber eben auch nicht mehr sprechen kann, ohne jede Äußerung genau abzuwägen, weil jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird. Ja, es ist beides: Gewinn und Verlust in Zeiten des Umbruchs – aber es ist eben auch beides.
Besonders deutlich wird dies auch mit Blick auf die drei Interventionen des Abends, die an dieser Stelle direkt in das politische Berlin dringen: Als Petra Bentkämper, Präsidentin des Landfrauenverbands, beschreibt, wie sie mit ihrer Organisation dafür kämpft, dass die ländlichen Räume nicht nur als Räume mit geringerem kulturellen Angebot wahrgenommen werden, in denen der ÖPNV nicht funktioniert, sondern auch als Sehnschtsorte, wo sich viele Menschen für ein gutes Zusammenleben engagieren. Oder als Louisa Basner, ehemalige Generalsekretärin der Bundesschülerkonferenz, die am Morgen dieses Tages noch Vorabi-Klausur geschrieben hat, vom Freiheitsgewinn nach der Schulzeit spricht – der Zukunftsangst und Unsicherheit gegenüberstehen, weil Freiheit, Sicherheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeiten mehr sind. “Es fühlt sich an, als wäre unsere Zukunft eine Glaskugel, mit der jemand jongliert und die jeden Moment zerbrechen könnte”, sagt sie – ein Gefühl, das viele junge Menschen psychisch belastet.
Und schließlich spricht die Migrationssoziologin und Teilhabeaktivistin Devrimsel Deniz Nergiz, die angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte beschreibt, wie Vielfalt und Chancengleichheit für Personen mit Migrationshintergrund in der Debatte nur noch thematisiert werden, wenn es um die Kompensation des Fachkräftemangels geht; und dass es gleichzeitig Menschen gibt, die sich trotz allem reinhängen und ihr Engagement für diese Dinge auch unter prekären Bedingungen und zum Teil unter Personenschutz weiterführen. Das seien keine Optimist:innen, das seien Hoffnungsträger:innen – weil sie eben nicht daran glauben, dass es schon wird, sondern weil sie genau wissen, in welche Richtung es gehen muss und hart dafür arbeiten.
Auch Anne Rabe sagt, der Optimismus sei am Ende nicht mehr als eine bequeme Haltung, in der man davon ausgehe, dass es schon nicht so schlimm kommen werde. Es gehe ihr aber nicht darum, den Kopf in den Sand zu stecken, sondern mit Blick auf die konkreten Gefahren ins Handeln zu kommen. Demokrat:innen hätten, sagt sie, noch nicht verstanden, wie fundamental die Angriffe der Rechtsaußen-Kräfte auf die Demokratie sind – das aber brauche es, um dagegen mit Weitsicht zu agieren. Verluste anerkennen, Gewinne benennen und dann über die nächsten Umfragewerte hinausdenken – eine einzigartige Fähigkeit, die der Mensch und auch die Demokratie als Staatsform gemein hätten.
Darin besteht auch die politische Chance, Vertrauen zurückzugewinnen. Denn – auch das sagen die Daten von Civey – obwohl die Deutschen die Schuld an der gegenwärtigen Lage fast ausschließlich beim Staat und einer fehlgeleiteten Politik sehen, ist der Ruf nach einem starken Staat deutlich: Nur 18 Prozent der Befragten geben an, ein zurückhaltenderer Staat wäre ihrem Sicherheitsgefühl zuträglich; mehr als die Hälfte hingegen wünschen sich einen stärkeren Staat in dieser Frage. Wenngleich hier noch nichts über Parteipräferenzen gesagt ist: Den Menschen scheint die Politik ebenso schuldig an der gegenwärtigen Situation zu sein wie wirkmächtig für deren Überwindung. Insofern ist die Chance auch eine Erwartung, ein deutlicher politischer Auftrag, jetzt zu handeln. Die Frage ist, wie.
Wir als Progressive haben in dieser Frage in den vergangenen Jahren viel dazugelernt: dass Zuversicht nur entstehen kann, wenn wir die Herausforderungen der Gegenwart ernst nehmen, annehmen und angehen. Dass wir nicht über Chancen sprechen können, ohne über Verluste zu reden. Dass Zuversicht auch selbstbewusst auf das bauen darf, was bereits geschafft wurde als Gesellschaft, wie z.B. die erfolgreiche Bewältigung der Gas-Krise nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine oder die Rekordzahlen bei den Erneuerbaren Energien. Dass Zuversicht statt nur auf der Makroebene in Form von Zahlen oder als bloße Erzählung dazustehen, im direkten Alltag gespürt werden muss. Einer unserer engen US-amerikanischen ok Partnerorganisationen, das Progressive Policy Institute, hat hierzu gerade eine beeindruckende Analyse auf der Grundlage von Nachwahlbefragungen vorgelegt. . Jetzt gilt es, daraus nach vorn gerichtet die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Darin liegt die große Kraft dieses Abends, der mit dem politischen Gespräch zwischen Matthias Miersch und Felix Banaszak in einen Winterfest-Ausklang übergeht: in der Zuversicht, dass sich in der Trias zwischen Verstehen, Reflexion und Anerkennung der Lage inmitten dieses Umbruchs eine neue politische Dynamik entwickeln muss und kann. Keine Dynamik, die konservativen Gedanken oder gar Rechtsaußen-Ideen auf den Leim geht, sondern eine progressive Dynamik. Erst zuhören, Verluste anerkennen, reflektieren – dann Gewinne benennen, Ideen und Werte konsolidieren und handeln. Es braucht beides.
Fotos © Moritz Richter