Neuorientierung des Liberalismus?

Der Liberalismus in Deutschland steckt (mal wieder) in der Krise. Eine grundlegende Neuaufstellung der FDP wäre auch im Interesse der demokratischen Gesellschaft. Dazu bräuchte es aber einen offenen Blick ins Ausland, neue Konzepte – und mehr Mut von den Jungen.

Nach ihrem Scheitern an der Fünfprozenthürde ist die FDP nicht nur auf der Suche nach einer neuen Führungsmannschaft. Sie sucht – das wird der Parteitag am Wochenende zeigen – auch sichtlich nach Orientierung. Die Ampel-Zeit hat in der Partei tiefe Wunden hinterlassen. Die wirtschaftsliberalen und konservativeren Kräfte haben von Beginn an mit dem Projekt Rot-Gelb-Grün gefremdelt und es als wesensfremde Zusammenarbeit jenseits des eigenen bürgerlichen Lagers begriffen. Dass die Grünen inzwischen auch einen Teil des Bürgertums abbilden und dessen Interessen durchzusetzen suchen, sah man teils als Gefahr, teils als Anmaßung – aber nicht als Chance zur Kooperation.

Aber auch den progressiveren Teilen der FDP hat das krachende Scheitern der selbsternannten Fortschrittskoalition einen Schlag versetzt. Diese gehörten in der Koalition zu den Aktivposten und konnten tatsächlich einige politische Vorhaben durchsetzen. Innerhalb der Partei wurden diese Leistungen aber kaum gewürdigt. Statt gesellschaftsliberale Projekte wie das Selbstbestimmungsgesetz als Erfolg der eigenen Politik zu feiern, sahen Teile der FDP darin vielmehr einen Ausdruck der verhassten „linksgrünen Hegemonie” in Politik und Gesellschaft. Dafür, dass sich Liberale für Transrechte oder die Freigabe von Cannabis stark machten, fehlte jegliches Verständnis. Genau darin liegt das Problem.

Liberaler Generationenkonflikt

Solange die FDP mit regelmäßigen Angriffen auf die eigenen Koalitionspartner auffiel, wurden die innerparteilichen Differenzen überdeckt. Zeitweise schien die Partei gar keine Flügel mehr zu haben. Doch in Wahrheit richtete sich die Pflege linksgrüner Feindbilder auch immer gegen den Teil der Partei, der eher sozial- und bürgerrechtsliberale Positionen verfolgt. Sie galten als unsichere Kantonisten und heimliche Grüne. Das zeigte sich ganz offen in der Debatte um Friedrich Merz‘ Zustrombegrenzungsgesetz und die sogenannte Brandmauer gegen die AfD. Dass Vertreter:innen des linken Parteiflügels im Bundestag – mutmaßlich aus Überzeugung – nicht für das Gesetz stimmten, führte zu Verratsvorwürfen von Seiten der Parteirechten. Ein eher illiberaler Akt, der aber zeigt, wie gespalten die Partei dasteht.

Hinter solchen Anfeindungen zwischen den Flügeln steckt auch ein Generationenkonflikt: Als die linksliberale Ikone Gerhart Baum kurz vor seinem Tod die Jungen in der Partei aufforderte, mehr Verantwortung zu übernehmen, meinte er vor allem die Gesellschaftsliberalen: Prominente Millennials wie Konstantin Kuhle, Johannes Vogel oder Ria Schröder vertreten gesellschaftspolitisch ganz andere Positionen als die Angehörigen der Boomer- oder der Gen-X-Generation, die bisher den Kurs der Partei bestimmt haben: Selbstbestimmung, Emanzipation und Transrechte sind den einen wichtig, für die anderen bestenfalls Kokolores. Genau das macht den anstehenden Generationenwechsel aber so schwierig: In der hochgradig polarisierten Partei galten die Jungen vielen Älteren als schlicht nicht vermittelbar. Und trotzdem war Gerhart Baums Forderung an die Jungen nur halb Ermutigung, aber auch halb Kritik; denn bisher haben die Progressiven sich schlichtweg nicht getraut, die Macht- und Richtungsfrage in der Partei zu stellen. 

Populisten und Migrationsgegner

Der Blick ins europäische Ausland zeigt, dass die Flügelkonflikte in der FDP keine deutsche Besonderheit sind. Zwar hat Patrick Bernau in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung dargestellt, dass es immer schon zu den Herausforderungen des Liberalismus gehörte, liberalkonservative und linksliberale Milieus mit ihren teils gegensätzlichen Präferenzen unter einen Hut zu bekommen; doch geht der Riss durch die liberale Welt aktuell so tief wie lange nicht mehr. Auf der einen Seite steht eine Riege rechtsliberaler Parteien in Europa, die sich in den vergangenen Jahren unter dem Druck der Konkurrenten am rechten Rand immer deutlicher nach außen bewegt haben. Ein Musterbeispiel ist das wallonische Mouvement Reformateur in Belgien. Dessen Parteichef, der 39-jährigen Georges-Louis Bouchez, steht immer wieder in der Kritik, nicht nur den traditionellen „Cordon Sanitaire“ um die extreme Rechte auflösen zu wollen – sondern diese auch in vielem zu imitieren. Mit Angriffen auf die „woke“ Linke, provokanten Äußerungen über „gens de voyage“ und zweifelhaften Fernsehauftritten polarisiert er wie wenige andere. Er hat seine Partei aber zur stärksten Kraft in der Wallonie gemacht. Ein rechtsliberaler Kulturkämpfer mit populistischem Appeal.

Was in Belgien zu klappen scheint, ist nicht überall erfolgreich. Nach zwölf Jahren an der Regierungsspitze unter Mark Rutte versuchte sich die niederländische VVD im Wahlkampf 2023 an einer dezidiert migrationskritischen Strategie – und machte damit vor allem Geert Wilders stark. Den Rechtsliberalen blieb seither nur die Rolle als dessen Juniorpartner. Den Ton in der Regierung gibt aber Wilders an. Auch den schwedischen Liberalen ist ihr Rechtskurs der vergangenen Jahre nicht gut bekommen. Zwar gehören sie seit 2022 nach längerer Pause wieder der Regierung an. Im Bündnis mit den rechtsextremen Schwedendemokraten setzen sie aber ganz auf deren Rezepte – Law and Order, Abschottung und Migrationskritik – und haben damit prominente Parteimitglieder vergrault, darunter EU-Kommissarin Cecilia Malmström. Auch die eigene Stammklientel dankte der Partei den Rechtskurs nicht: In Umfragen steht sie derzeit bei drei Prozent und keiner weiß genau, wozu es die Liberalen neben Konservativen, Christdemokraten und Rechtspopulisten überhaupt braucht. Für die FDP kein überzeugendes Modell.

Progressive und Ökoliberale

Vielleicht liegt die Zukunft des Liberalismus im 21. Jahrhundert ja doch links der Mitte? In der europäischen Renew-Fraktion sitzt die FDP mit zahlreichen Parteien zusammen, die hierzulande leicht als „linksgrün“ abgetan würden: Die schwedische Zentrumspartei, die dänischen Radikalen oder die norwegische Venstre setzen traditionell auf eine Mischung aus gesellschafts-, sozial- und ökoliberalen Positionen und damit auf ganz andere Themen als die deutsche Schwesterpartei. Statt dem Trend zum rechten Kulturkampf zu folgen, halten sie die Werte der offenen Gesellschaft hoch und haben sich damit einen festen Platz in ihren politischen Systemen erarbeitet. Das zeigen nicht zuletzt die niederländischen Democraten 66: Nacheinander von einem Journalisten, einem Kinderbuchautor, einem Kunsthistoriker und einer Diplomatin angeführt, haben sie sich als dezidiert gesellschaftsliberale Kraft mehr profilieren können als viele andere liberale Parteien. Mit dieser Strategie waren sie im vergangenen Jahrzehnt sehr erfolgreich und belegten bei der Wahl 2021 den zweiten Platz – den sie mittlerweile aber wieder an die neue Allianz aus Sozialdemokraten und Grünen abgeben mussten.

Dass liberale Parteien nicht zwangsläufig nach rechts rutschen müssen, zeigen auch die flämischen Liberalen von der Open VLD. Einst als stramme Wirtschaftspartei im Stile Margaret Thatchers gegründet, ist sie unter dem Einfluss des sozialliberalen Soziologen Dirk Verhoftstadt – einem Fan von Karl Popper und Amartya Sen – immer weiter in die Mitte gerückt; und hat bis zum vergangenen Jahr insgesamt 26 Jahre lang regiert. Zwar gibt es auch noch einen konservativen Flügel; das hält die Partei aber nicht davon ab, regelmäßig Mitte-Links-Bündnisse zu schließen. Seit Jahren regieren die Liberalen in Städten wie Brüssel, Gent, Mechelen und Ostende in Koalitionen mit Grünen und Sozialisten. Was in Deutschland im Bund schiefgegangen ist, scheint in Flandern zu klappen.

Liberalismus anders denken

Wie also geht es weiter mit den Freien Demokraten in Deutschland? Viele in der Partei hoffen, vom Kurs der neuen schwarz-roten Koalition zu profitieren und sich nicht groß verändern zu müssen. Die 180-Grad-Wende der Union in der Frage der Schuldenbremse und abzusehende weitere Kompromisse mit der SPD könnten unzufriedene Stimmen aus dem bürgerlich-konservativen Lager wieder zur FDP führen. Ob das aber reicht, um sich aus der lebensbedrohlichen Krise zu befreien? Zum einen wartet mit der AfD eine starke Konkurrentin, die Unzufriedene anzieht, zum anderen bietet die Kombination wirtschaftsliberal-konservativ-migrationskritisch, wie sie die FDP in den vergangenen Monaten versucht hat, wenig eigenes Profil.

Den Ausgang der Bundestagswahl sollte der politische Liberalismus in Deutschland dazu nutzen, um viel grundsätzlicher über seine Rolle nachzudenken. Schon jetzt wird klar, dass Schwarz-Rot kein sehr liberales Projekt sein wird. Vielmehr setzt die ehemals große Koalition auf den Staat – mal auf den starken, mal auf den sorgenden, mal auf den harten. Die Liberalen könnten das nutzen, um sich als genuine Kraft der freiheitlichen Gesellschaft zu positionieren. Dazu müssten sie aber Liberalismus anders denken als bisher: mit liberalen Angeboten in der Gesellschaftspolitik, die auf die freie Entfaltung des Individuums in einer offenen Gesellschaft setzen; mit einer menschenrechtskonformen, auf Freiheit zielenden Migrationspolitik; mit einer Sozialpolitik, die nicht auf Strafe und Disziplinierung setzt, sondern auf Autonomie; und mit neuen Ideen zum Bürokratieabbau und zur Staatsmodernisierung, die über stupide Entlassungsorgien wie in den USA hinausgehen. Was kann liberale Politik gegen die Wohnmisere unternehmen, was gegen den Zerfall der Infrastruktur und was gegen den Klimawandel?

Mit progressiven Antworten auf diese Fragen könnten die Liberalen der Regierung Merz erfolgreich die Stirn bieten – und nebenbei ihre Position in den großstädtischen Milieus und in den jungen Generationen verbessern. Die Achtungserfolge der linksliberalen Volt zeigen, dass es dort Potenzial gibt. Bei der Hamburg-Wahl schnitt diese stärker ab als die FDP.

Die Unzufriedenheit größerer Teile der Partei mit der Politik der selbst ernannten Fortschrittskoalition hat deutlich zeigt, wie schwer es progressiv-liberale Positionen in Teilen der FDP und ihres Umfelds haben. Aber vielleicht folgen die Jungen in der Partei ja aller Widerstände zum Trotze dem Wunsch von Gerhart Baum und trauen sich aus der Deckung.

Autor

Dr. Thorsten Holzhauser (*1985) ist seit Januar 2025 Geschäftsführer der überparteilichen Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart. Als Historiker und Politikwissenschaftler beschäftigt er sich mit der Entwicklung der Demokratie und des politischen Parteiensystems, insbesondere des Liberalismus und der politischen Linken.

Alle zwei Wochen geht ein:e Autor:in aus dem Netzwerk von Das Progressive Zentrum in der Kolumne Die Progressive Lage einer aktuellen politischen Frage nach, ordnet ein, kommentiert, setzt Impulse, an denen wir uns reiben können – auch wir als Herausgeber:innen, weil die Standpunkte unserer Autor:innen nicht zwangsläufig immer auch unsere sein werden.

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