Ist Wehrhaftigkeit die beste Verteidigung?

Die Wehrhaftigkeit der Demokratie ist der Bundesrepublik als Lehre aus dem Nationalsozialismus eingeschrieben. Neben Einschränkungen politischer Betätigung umfasst diese Wehrhaftigkeit Maßnahmen im Bereich des öffentlichen Diskurses sowie des Schutzes rechtsstaatlicher Institutionen. Inwiefern stehen solche Maßnahmen aber in Spannung zu demokratischen Prinzipien? Und lassen sich diese Spannungen mildern, wenn man Wehrhaftigkeit mit anderen Formen der Demokratiepolitik verbindet?

In einer liberalen Demokratie treffen Mehrheiten politische Entscheidungen. Diese Mehrheiten müssen sich ändern können – und an die Achtung von Grundrechten gebunden bleiben. Erlangen Akteure Machtpositionen, die auf eine Unterminierung der liberalen Demokratie abzielen, stellt sich in einer liberalen Demokratie die Frage, wie sie sich dagegen wehren kann. Weil aber zum Kern der Demokratie gehört, dass sie politisch gestaltet werden kann, entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Veränderbarkeit und der Wehrhaftigkeit von Demokratie. Wie sollten liberale Demokrat:innen mit diesem Spannungsverhältnis umgehen?

Diese Frage stand im Mittelpunkt der zweiten Ausgabe des von der Bertelsmann Stiftung und dem Progressiven Zentrum organisierten Roundtables Demokratiepolitik. In der ersten Ausgabe war es darum gegangen, wie die Demokratiepolitik als eigenständiges Politikfeld gestärkt werden kann. Bei dieser Folgeveranstaltung wollten wir uns auf die Verteidigung der Demokratie als einer Form von Demokratiepolitik fokussieren – und dabei zu einer differenzierteren Diskussion beitragen, in der die normativen Spannungsverhältnisse einer wehrhaften Demokratie reflektiert werden. Dabei spielen auch Fragen der politischen Strategie eine Rolle. Schließlich stellt sich die Frage nach der Wehrhaftigkeit einer liberalen Demokratie vor allem dann, wenn sie es mit starken Gegnern zu tun bekommt. Zu differenzieren sind darüber hinaus verschiedene Felder der Demokratieverteidigung: Ein Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 GG ist in der Bundesrepublik der Kristallisationspunkt, um den sich Debatten über den Umgang mit extremistischen Parteien drehen. Darüber hinaus steht die Handlungsfähigkeit des Parlaments und weiterer demokratischer Institutionen im Fokus politischer Aufmerksamkeit. Eine notwendige Bedingung für die Deliberation und Entscheidungen in diesen Institutionen ist ein pluralistischer Diskurs in der breiten Öffentlichkeit. Deshalb bildet dieser eine weitere Arena der Demokratieverteidigung, die wir hier als Erstes in den Blick nehmen wollen. 

Missachtung und Pluralismus im öffentlichen Diskurs

Den Aufschlag für dieses Themenfeld machte Frauke Rostalski, die an der Universität zu Köln eine Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung innehat. Rostalski sieht den Pluralismus im öffentlichen Diskurs als gefährdet an. Laut einer Allensbach-Umfrage hätten noch nie so viele Bürger:innen der Bundesrepublik das Gefühl gehabt, dass sie ihre Meinung nicht mehr frei äußern können. Dies lasse sich auch darauf zurückführen, dass inhaltliche Positionen in politisch so virulenten Auseinandersetzungen wie über die richtigen Maßnahmen in einer Pandemie oder dem Klimawandel moralisch derart aufgeladen würden, dass man sich mit unpopulären Positionen schnell ins Abseits stelle. Hinzu kämen handfeste rechtliche Entwicklungen: So wurde das Strafrecht bei Beleidigungen in den vergangenen Jahren zunehmend verschärft. Und zwar sowohl von politischen Repräsentant:innen als auch mit Blick auf marginalisierte Gruppen. In beiden Bereichen macht Rostalski zudem eine verschärfte Ahndungspraxis aus, die schon bei geringfügigen Anlässen ansetze. Beispielsweise sei vom ehemaligen Wirtschaftsminister Robert Habeck auch dann Anzeige erstattet worden, wenn Bürger:innen ihn als „Schwachkopf“, „Vollpfosten“ oder „Vollidiot“ bezeichnet haben. Dies zeugt für Rostalski von einer abnehmenden Toleranz staatlicher Akteure bei Machtkritik und könne zur Folge haben, dass Bürger:innen sich mit Machtkritik – in welcher Form auch immer – künftig lieber zurückhalten.

Auf diese Position reagierte Simone Rafael, die als Kommunikationsmanagerin beim Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) arbeitet, das als gemeinnützige Organisation Expertise zu Themen wie Verschwörungs­ideologien, Antisemitismus und Rechtsextremismus bündelt. Anzeigen wegen einer Beleidigung als Schwachkopf gehen auch Rafael zu weit. Stattdessen solle man sich auf gravierende Fälle fokussieren. Und zwar deshalb, weil Meinungsfreiheit gerade durch schwerwiegende Formen der Missachtung eingeschränkt werden könne. Betroffene zögen sich nämlich häufig aus dem Diskurs zurück, wenn sie Misogynie, Rassismus oder andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit erfahren. Am besten fände Rafael es, wenn die Zivilgesellschaft selbst solche Phänomene eindämmen könnte, etwa durch Beiräte auf digitalen Plattformen. Lange habe sie daran auch geglaubt – inzwischen aber nicht mehr. Soziale Medien seien durch ihr Geschäftsmodell zu stark auf Krawall ausgerichtet, da dies die Interaktionen und damit auch die Werbeeinnahmen erhöhe. Gesetzliche Regulierungen seien deshalb unabdingbar. Ein Problem sei aber in der Tat die Interpretationsbedürftigkeit dieser Regulierungen.

Besonders interpretationsbedürftig sind viele Formulierungen im Digital Services Act (DSA) der Europäischen Union – der gegenwärtig die wichtigste Form der Regulierung von Onlinediskursen darstellt. Bei dessen Implementierung seien Deutsche übereifrig, wie Rostalski in der Diskussion hervorhob. So verlangt der DSA, dass Meldungen durch sogenannte Trusted Flagger von Plattformen bevorzugt berücksichtigt werden. Die Bundesnetzagentur, die in Deutschland für die Implementierung des DSA zuständig ist, gäbe vor, dass diese auch Inhalte markieren können, die zwar von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, aber Hass schüren oder Fake News verbreiten. Für welche Aussagen das im Einzelnen gilt, bleibe jedoch notorisch umstritten und dürfe deshalb nicht staatlich akkreditierten Akteuren aus der Zivilgesellschaft überlassen werden.

Müssen alle Diskursteilnehmer:innen in sich verschärfenden Auseinandersetzungen also einfach robuster werden? Diese Frage ist nicht mit Ja oder Nein zu beantworten – darüber bestand Einigkeit in der Diskussion. Jemand, der oder die eine hervorgehobene Position in der Bundespolitik einnimmt, müsse mehr aushalten können als ein:e Kommunalpolitiker:in. Zu unterscheiden seien zudem menschenverachtende Herabsetzungen von geringfügigen Beleidigungen. Derartige Grenzen präziser zu ziehen und durchzusetzen ist eine demokratiepolitische Arbeit, die für die Verteidigung der Demokratie offenbar noch zu leisten ist. Andernfalls entfernen wir uns weiter von einer inklusiven Öffentlichkeit, die minimale Standards deliberativer Auseinandersetzungen wart.

Kriterien der Handlungsfähigkeit demokratischer Institutionen

Wenn der öffentliche Diskurs so etwas wie der gesellschaftliche Nährboden der Demokratie ist, bildet das Parlament ihren institutionellen Kern. Laut Danny Schindler, Direktor am Institut für Parlamentarismusforschung, erfüllen Parlamente nach wie vor ihre Aufgaben – auch wenn eine bisweilen alarmistische Berichterstattung anderes nahelege. Es sei jedoch stark übertrieben, von einer Staatskrise zu reden, wenn die Wahl eines Bundeskanzlers wegen einiger Abweichler:innen in den Regierungsfraktionen im ersten Wahlgang nicht gelingt. Das sei im Parlamentarismus nicht unüblich. Gleichwohl beeinträchtigen Schindler zufolge hausgemachte Stressfaktoren die Handlungsfähigkeit von Parlamenten. Beispiele dafür seien Verzögerungstaktiken und Täuschungsmanöver, wie sie von AfD-Fraktionen auf Landes- wie Bundesebene bewusst genutzt würden. Bedroht sei der Parlamentarismus aber vor allem durch die schwache Verankerung der repräsentativen Demokratie im Wahlvolk: Laut Umfragen präferierten nur noch ein Drittel der Bevölkerung die repräsentative Demokratie. Im Osten der Republik meine eine Mehrheit, dass sie in einer Scheindemokratie lebe, im Westen seien es immerhin 27 Prozent. Und 60 Prozent monierten einen zu starken Fokus auf Kompromisse – der für die bundesrepublikanische Verhandlungsdemokratie geradezu charakteristisch ist.

Auch Sven Hölscheidt, Professor für Öffentliches Recht an der Freien Universität Berlin sowie langjähriger Leiter des Fachbereichs Verfassung und Verwaltung im Deutschen Bundestages, sieht eben diesen als handlungsfähig an. Für Hölscheidt läge Handlungsfähigkeit aber auch dann vor, wenn extremistische Gesetze beschlossen würden. Schließlich sei Extremismus kein politischer neutraler Begriff, der sich durch formale Kriterien definieren ließe. Wenn Parteien gewählt würden, die in den Augen anderer Parteien extremistisch sind, müssten sie fair behandelt werden. Konkret bedeutet das für Hölscheidt, dass auch der AfD der Posten eines:r Vizepräsident:in des Deutschen Bundestags gewährt werden sollte. Wenn dann dennoch überreizt wird – zum Beispiel durch Verstöße gegen die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags oder gar das Grundgesetz – gäbe es die Möglichkeit von Ordnungsmaßnahmen gegen Extremist:innen wie zum Beispiel einen Sitzungsausschluss. Darüber hinaus schlug Hölscheidt vor, die Möglichkeit eines Mandatsverlusts als schärfere Maßnahme einzuführen.

In der Diskussion wurde infrage gestellt, wie sinnvoll ein rein formaler Begriff von Handlungsfähigkeit ist. Müsse die Demokratie nicht auch in dem Sinne handlungsfähig sein, dass sie gesellschaftliche Probleme zu lösen vermag? Was den Bundestag in der letzten Legislaturperiode bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe wirklich blockiert habe, sei mangelnde Kompromissfähigkeit. Das läge daran, dass Parteien aus unterschiedlichen Lagern, nunmehr zusammenarbeiten müssten. Auch im Hinblick auf seine Wehrhaftigkeit sei der Bundestag zu stark von den im Rückblick golden schimmernden Zeiten der alten Bundesrepublik geprägt. Das eigentliche Problem beim Scheitern der Wahl von Friedrich Merz im ersten Wahlgang sei allerdings die mangelnde Vorbereitung darauf gewesen. Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestag sei im Vergleich zu vielen Geschäftsordnungen auf Landesebene weniger engmaschig. Das habe auch Vorteile, da sie dadurch flexibler sei. Um diese Flexibilität zu nutzen, müsse man die Regeln dann aber auch wirklich kennen. Die zunächst offenbar mangelnde Kenntnis sei bei der Wahl von Merz das eigentliche Problem gewesen, da dadurch der Bundestag weniger resilient wirkt, als er es eigentlich ist.

Als gelungenes Beispiel für demokratiepolitische Reform zur Stärkung von Resilienz wurde die Verankerung von Strukturvorgaben für das Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz genannt. Auch solche Änderungen können aber nur so lange wirken, wie das Bundesverfassungsgericht von den politischen Akteuren anerkannt wird. Wenn extremistische Parteien einmal an die Mehrheit gelangen sollten, sei Hopfen und Malz verloren. Wie aber lässt sich dies am besten verhindern?

Chancen und Gefahren eines Parteiverbotsverfahrens

Die Diskussion um ein mögliches Parteiverbotsverfahren gegen die AfD schwelt schon länger. Spätestens seit das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die Einstufung der AfD als gesichert rechtsextrem per Presseerklärung veröffentlicht hat, schwillt sie auf politischer Ebene an. Die Argumente für und gegen den Antrag auf ein solches Verbotsverfahren greifen viele der rechtlichen und politischen Implikationen grundsätzlicher Debatten um die wehrhafte Demokratie auf. Schließlich steht das Parteiverbotsverfahren geradezu paradigmatisch für eine Demokratie, in der eine oder mehrere ihrer wesentlichen Institutionen zum Schutz demokratischer Prinzipien das Bundesverfassungsgericht anrufen.

Alexander Thiele, Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht, an der BSP Business and Law School, sah in seinem Impuls die Debatte um ein Parteiverbotsverfahren selbst als Gewinn für die demokratische Kultur: Das Ausmaß, in dem eine Demokratie die für sie grundlegenden Werte begrenzen könne, sei in jeder Demokratie unterschiedlich und durch historisch je eigene Erfahrungen geprägt. Aus juristischer Sicht bewertete Thiele den Erfolg eines Verbotsverfahrens als durchaus möglich. Die Hürden seien weniger hoch als in der politischen Diskussion oft behauptet. Auch politisch sei ein erfolgreiches Verbotsverfahren schlagkräftig – dafür müssten jedoch die relevanten Akteure des demokratischen Spektrums geschlossen hinter der Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens stehen.

Heinrich Wefing, Co-Ressortleiter Politik bei der ZEIT, warnte indes vor den politischen und gesellschaftlichen Folgen eines erfolgreichen Parteiverbotsverfahrens. Für ihn handelt es sich dabei um eine juristische Entlastungsphantasie. Sollte die AfD verboten werden, könne man nicht erwarten, dass ihre Wähler:innen in der Mehrzahl zu den demokratischen Parteien der Mitte wechselten. Erfahrungen mit Verurteilungen mächtiger Poliker:innen in althergebrachten Demokratien wie den Vereinigten Staaten oder Frankreich widersprächen dieser Erwartungshaltung. Insgesamt ist Wefing die Debatte um die Wehrhaftigkeit der Demokratie zu defensiv. Mit dem Slogan, die Demokratie zu verteidigen, gewinne man keine Wahlen. Stattdessen bedürfe es gerade auf progressiver Seite positiver Zukunftsentwürfe, die in mehr bestünden als einer Verlängerung der Vergangenheit – nur mit Elektroautos.

Der Fokus auf die Wiederherstellung des Status quo ante wurde auch in der Diskussion kritisiert – und zwar auch über Deutschland hinaus. So lasse sich die demokratische Regression in den Vereinigten Staaten auch auf den Eindruck zurückführen, dass vor allem Bessergestellte von bislang bestehen Institutionen profitiert hätten. In der Europäischen Union sei die zunehmende Verrechtlichung etwa durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs durchaus ein Problem. Das sei ein Grund, warum sich in Osteuropa zunehmend dagegen gewehrt werde. Beispiele wie diese illustrieren, dass der Druck auf die liberale Demokratie ein grenzüberschreitendes Phänomen ist, das tieferliegende Ursachen hat. Welche Schlüsse lassen sich daraus für die Demokratieverteidigung in Deutschland ziehen? 

Verteidigung und Weiterentwicklung der Demokratie

Einig waren sich die Teilnehmer:innen darin, dass der demokratische Rechtsstaat auch hierzulande grundlegend herausgefordert ist. Potenzielle Maßnahmen zur Steigerung der Wehrhaftigkeit der deutschen Demokratie reichten daher nicht aus. Das politische System der Bundesrepublik müsse sich stärker legitimieren – insbesondere durch eine stärkere Problemlösungskompetenz der Politik. Eine solche Output-Legitimation liegt gerade im Kontext aktueller Debatten um Staatsreform und Bürokratieabbau nahe. Allerdings ist Output nur dann legitim, wenn er durch den demokratischen politischen Prozess hervorgebracht wird. Eine ganzheitliche Demokratiepolitik, die Input- und Throughput-Legitimation systematisch verzahnt, scheint daher zentral.

Eine solche Demokratiepolitik könnte auch ein Baustein eines attraktiven Zukunftsentwurfs sein. Dadurch ließe sich der in Umfragen immer wieder deutlich werdende Wunsch nach effektiven Beteiligungsrechten besser verwirklichen. Bürger:innenräte sind dabei sicher kein Stein der Weisen, wie in der Diskussion kritisch angemerkt wurde – schon gar nicht in ihrer gegenwärtigen, unverbindlichen Form. Man könnte sie aber dafür nutzen, tiefgreifende politische Auseinandersetzungen zu führen, zum Beispiel darüber, wie man die Klimakrise am besten eindämmen kann oder welche Fehler in der Corona-Pandamie gemacht worden sind – und welche nicht. Langfristig wäre das eine wirksame Maßnahme zur Verteidigung der Demokratie. Kurzfristiger wirkende Maßnahmen der Wehrhaftigkeit schließt das keineswegs aus. Vielmehr könnten sich wohldosierte Wehrhaftigkeit und eine Weiterentwicklung und Expansion der Demokratie wechselseitig ergänzen. Nötig ist dafür aber eine Demokratiepolitik, die von politischen Entscheidungsträger:innen so ernst genommen wird, wie andere Politikfelder auch.

Autoren

Leander Berner ist Project Manager im Bereich Demokratie und Zusammenhalt bei der Bertelsmann Stiftung.

Andreas Oldenbourg

Senior Projektmanager
Andreas Oldenbourg ist Senior Projektmanager im Bereich Resiliente Demokratie des Progressiven Zentrums. Er betreut mehrere Projekte und Veranstaltungen zur demokratischen Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation.
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