Liebe progressive Mitstreiter:innen,
normalerweise wäre dieses Mailing ein klassischer Jahresendnewsletter, der noch einmal unsere wichtigsten Veranstaltungen, Studien und Debatten des vergangenen Jahres heraushebt. Und ja, natürlich haben wir unser politisches Jahr 2024 für euch und uns rekapituliert – aber an anderer Stelle. Weil zu diesem Jahresende alles anders ist, möchten wir hier lieber den Versuch einer Einordnung unternehmen.
Denn im Dezember 2024 hat das kommende Jahr bereits begonnen – politisch jedenfalls. Am Montag hat der Bundeskanzler die Vertrauensfrage im Bundestag gestellt und wie beabsichtigt verloren, um den Weg für Neuwahlen am 23. Februar 2025 freizumachen. Dieses durchaus historische Ereignis wurde allerdings zur Nebensache; nutzten Olaf Scholz, Robert Habeck, Friedrich Merz und Christian Lindner das Plenum doch vor allem als Wahlkampfarena – Abrechnung melierte mit Wahlversprechen. Deutschland, dein Winterwahlkampf.
Unsicherheit statt Zuversicht – das Gefühl der Stunde
Dass wir mit einem unserer Jahreshighlights, dem Politischen Symposium Anfang Dezember im Allianz Forum, genau zwischen Ampel-Aus und vorgezogenen Neuwahlen liegen würden, hatten wir uns weder vorgestellt noch gewünscht. Mit 120 Entscheider:innen aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft haben wir die Gelingensbedingungen der gerechten Transformation diskutiert. Und der Gesprächsbedarf auf allen Seiten war groß.
Denn nach einem turbulenten politischen Jahr starten wir in den Wahlkampf zum 21. Deutschen Bundestag aus einer Situation heraus, in der Progressive nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und Nordamerika in die Defensive geraten sind wie selten zuvor – und mit ihnen progressive Politik. Sozialökologische Themen und Lösungen haben keinen Platz in den gegenwärtigen Debatten, die sich vornehmlich um die deutsche Wirtschaftskrise und internationale Konflikte drehen. Unsicherheit ist das Gefühl der Stunde, genau darüber zu sprechen das Gebot der Stunde und unsere Aufgabe als Progressive: die Lage ganzheitlich und in der Verschränktheit der Dinge zu betrachten.
Wie deutlich sich Krisen und Konflikte in der Stimmung der Bevölkerung niederschlagen, zeigen jüngste Zahlen, die das Umfrageinstitut Civey erhoben hat und die wir im Rahmen des Politischen Symposiums erstmals vorgestellt haben. Wenngleich der Trend schon länger dahin geht: Seit Anfang 2022 empfinden mehr Menschen in Deutschland eher Unsicherheit und Wut als Zuversicht. Das scheint plausibel mit Blick auf den Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar des selben Jahres, ist aber insofern bemerkenswert, als dass Zuversicht vor vier Jahren noch das bestimmende Gefühl war – und sich seitdem nahezu halbiert hat.
Progressive Sicherheit und die Reform des Modells Deutschland
Die Themen, die die Zuversicht der Deutschen gekostet haben, sind Wirtschaft und Sicherheit. Die Wirtschaftskrise ist real, die beschworenen Szenarien düster. Das Modell Deutschland – jahrzehntelang Garant für Wachstum und Wohlstand – funktioniert in der neuen geopolitischen Lage nicht mehr. Tatsächlich steckt es bereits seit längerem in der Krise, wie wir im Rahmen unseres Politischen Symposiums analysiert haben. Das Modell Deutschland brauche eine Reform – flankiert durch eine Politik progressiver Sicherheit, die innere und äußere Sicherheit sowie soziale, ökologische, geopolitische und technologische Dimensionen zusammen denkt statt die Debatte an der Realität der Herausforderungen vorbei auf migrationspolitische Ängste zu verengen.
Die Schuld an der gegenwärtigen Lage sehen die Deutschen dabei beim Staat und einer fehlgeleiteten Politik. Der Anteil der Unternehmen an der Situation rückt in den Hintergrund. Die Ansprüche an Politiker:innen scheinen höher zu sein als jene an Manager:innen. Das aber – auch das zeigen die Umfragedaten – führt nicht zu einem Ruf nach weniger Staat. Im Gegenteil: Nur 18 Prozent der Befragten geben an, ein zurückhaltenderer Staat wäre ihrem Sicherheitsgefühl zuträglich; mehr als die Hälfte hingegen wünschen sich einen starken Staat in dieser Frage. Wenngleich hier noch nichts über Parteipräferenzen gesagt ist: Den Menschen scheint die Politik ebenso schuldig an der gegenwärtigen Situation zu sein wie wirkmächtig für deren Überwindung. Das ist ein Auftrag – die Frage ist nur: Für wen?
Empathie statt Statistik
Um diesen Auftrag annehmen zu können und als Progressive aus der Defensive zu kommen, müssen wir zuallererst anerkennen, dass Unsicherheit und Zukunftspessimismus die öffentliche Stimmung dominieren. Das scheint ebenso banal wie schwierig für progressive Politik, die grundsätzlich auf Zuversicht und Lust auf die Zukunft baut. “Politik aber funktioniert nur mit einer großen Portion Empathie”, wie SPD-Generalsekretär Matthias Miersch im Rahmen unseres Progressiven formulierte. Das sei einer der zentralen Fehler progressiver Politik gewesen, so auch der neue Grünen-Co-Vorsitzende Felix Banaszak: Auf Ängste mit Statistiken geantwortet zu haben – und nicht mit Empathie. Robert Habecks Küchentischtour durch Pflegeheim, Bahnhofsmission und Co. ist ein erstes Anzeichen dafür, dass progressive Kräfte das verstanden haben: dass Habeck Kritik und Unsicherheit nicht mit Cheerleader-Mentalität kontert, sondern erst einmal vor allem: zuhört!
Progressive müssen sich mit der emotionalen Realität empathisch auseinandersetzen. In ehrlichen Debatten, im Agenda Setting – und zwar jetzt! Gleichzeitig ist dieser Moment nicht nur einer der Selbstkritik und des Umbruchs. Er birgt auch Chance und Notwendigkeit einer Selbstvergewisserung: Was müssen wir ändern (emotionale Anschlussfähigkeit)? Und worauf können – und müssen – wir als Progressive bestehen (den sozial-gerechten Umbau hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft)?
Dabei haben wir in den vergangenen Jahren dazugelernt, dass Zuversicht
- nur entstehen kann, wenn wir die Herausforderungen der Gegenwart ernst nehmen, annehmen und angehen und dass wir nicht über Chancen sprechen sollten ohne auch dezidiert über Verluste zu reden;
- auch selbstbewusst auf das bauen darf, was bereits geschafft wurde als Gesellschaft, wie z.B. die erfolgreiche Bewältigung der Gas-Krise nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine oder die Rekordzahlen bei den Erneuerbaren Energien.
- statt nur auf der Makroebene in Form von Zahlen oder als bloße Erzählung dazustehen, im direkten Alltag gespürt werden muss. Einer unserer engen US-amerikanischen ok Partnerorganisationen, das Progressive Policy Institute, hat hierzu gerade eine beeindruckende Analyse auf der Grundlage von Nachwahlbefragungen vorgelegt.
Mit dieser Grundhaltung einer begründeten Zuversicht, die Unsicherheiten Raum gibt und doch nach vorne weist, gilt es den Bundestagswahlkampf zu bestreiten. Sie steht dem hetzerischen Abgesang der Populist:innen diametral gegenüber.
Vernetzung, Analyse, Debatte – was war und was ansteht
Im Bewusstsein einer neuen Dringlichkeit arbeiten wir als gemeinnütziger Think-Tank genau an dieser Grundhaltung mit und setzen das Thema Progressive Sicherheit auf die Agenda. Wir vernetzen progressive Kräfte in Deutschland und auch international – und uns im Kampf gegen einen demokratiefeindlichen Extremismus auch mit Demokrat:innen rechts der Mitte. Denn wir sind überzeugt: Dieser Kampf kann nur in politisch breiter Geschlossenheit gelingen. Und das setzt kritische, aber wohlwollende politische Debatten zwischen den Parteien des demokratischen Spektrums und letztlich Kompromissfähigkeit voraus.
Auch dafür wollen wir uns 2025 einsetzen.
Und wir möchten euch aufrichtig danken für die gemeinsame Arbeit, den Austausch, die Begegnungen, die uns zuversichtlich auch auf das kommende Jahr blicken lassen – es gibt viel zu tun!
Herzliche Grüße
Dominic Schwickert, Geschäftsführer
Paulina Fröhlich, Stellvertretende Geschäftsführerin
Wolfgang Schroeder, Vorsitzender
Judith Siller, Zweite Vorsitzende