Können ein Klimaaktivist, eine Juristin, ein Sozialpolitik-Experte und eine Sprecherin der Automobilbranche den Planeten Ovum vor der Zerstörung retten? Wir haben es getestet – im Rahmen eines großen demokratiepolitischen Experiments.
Das 660 Quadratmeter große Forum des Futuriums ist bis auf den letzten Platz besetzt an diesem Novemberabend in Berlin. Auf der Bühne stehen grün gestrichene Ölfässer, ein orangefarbenes Ei, auf der Leinwand darüber eine Warnung: “Die Teilnahme an der Show birgt das Risiko eines Perspektivwechsels und kann zu Nebenwirkungen wie Spaß führen.” Dass die Zuschauer an diesem Abend keine Podiumsdiskussion oder Lesung, kein Vortrag oder Impulsreferat erwartet, ist klar. Unklar ist, was genau an passieren wird – selbst den Veranstaltenden, den Mitarbeitenden des Progressiven Zentrums und des Futuriums, die dieses Experiment monatelang vorbereitet haben.
“Democracy on Fire” ist der Titel der demokratiepolitischen Spielshow, in der Das Progressive Zentrum an diesem Abend im – und in Zusammenarbeit mit dem – Futurium Kooperation als essenziellen Bestandteil von Demokratie spielerisch testen will. Vier Persönlichkeiten sollen gemeinsam mit dem Publikum unter Zeitdruck eine knifflige demokratiepolitische Aufgabe lösen: den Planeten Ovum, der ein mächtiges Umweltproblem hat, vor der (Selbst-)Zerstörung zu retten. Doch jeder Lösungsschritt birgt auch die Gefahr, den gesellschaftlichen Frieden auf Ovum zu stören. Das Konzept wurde gemeinsam mit dem Spielentwickler Elia Camponovo entwickelt.
Die Spieler:innen, das sind Liane Bednarz, liberal-konservative Publizistin und Juristin, Klimaaktivist Jakob Blasel, Mansour Aalam, Direktor des Zentrums für neue Sozialpolitik, sowie Esra Aydin, Sprecherin für Nachhaltigkeit der Volkswagen Group. 70 Minuten Zeit haben sie, um unter der Spielleitung der Journalistin und Tagesthemen-Moderatorin Aline Abboud dem Planeten Ovum und seinen Bewohner:innen, den Ovis, zu helfen. Um Umwelt und Gesellschaft in Einklang zu bringen, müssen sie in verschiedenen Spielen Punkte sammeln, mit denen sie sowohl den Verschmutzungsgrad durch den gefährlichen Schadstoff IH, als auch den Widerstand gegen die dringend notwendigen Umweltschutzmaßnahmen durch die Bevölkerungsgruppe der Yolos senken können. Los geht’s!
Demokratiepolitische Superkräfte
Dunkler Raum. Dramatische Musik. Blaues Licht. Die Spieler:innen laufen nacheinander unter tosendem Applaus auf die Bühne. Aline Abboud möchte zu Beginn wissen, welche demokratiepolitischen Superkräfte jede:r von ihnen mitbringt für die bevorstehende Mission. Esra Aydin sagt, sie sei als mehrfache Mutter darin geübt, in komplexen Situationen das Gemeinsame zu finden. Jakob Blasel nimmt für sich in Anspruch, das Ziel nie aus den Augen zu verlieren – schließlich nützten alle Gemeinsamkeiten nichts, wenn man den Planeten am Ende nicht zu retten schaffe. Liane Bednarz sieht ihre Rolle vor allem darin, das Soziale bei der Bewältigung der Ovum-Krise nicht aus den Augen zu verlieren. Mansour Aalam outet sich seine Frau zitierend als notorischer Spieleverweigerer – was sich im Laufe des Abends je nach Interpretation als gnadenlose Fehleinschätzung oder auch sympathisches Understatement erweisen wird.
Apropos demokratiepolitische Superkräfte: Im ersten Spiel „Finde die Mehrheit“ muss sich das Team unter enormem Zeitdruck auf eine Methode einigen, um die zuvor eingeteilten Publikumsgruppen in ihrer Größe zu schätzen. Es geht drunter und drüber – und Jakob Blasel bezweifelt lachend, die Regierung je wieder legitim kritisieren zu können. Vor allem die Superkräfte Enthusiasmus und Engagement aber zeigen an diesem Abend alle vier Persönlichkeiten. Sie sind on fire für die Verteidigung der Demokratie – und Mansour Aalam ganz vorne mit dabei. Etwa wenn er beim Spiel “gleich den größten zur Auswahl stehenden Gegenstand aus etwa drei Metern Distanz auf einen Tisch zu werfen versucht, ohne dass dieser wieder hinunterfällt: ein Bobbycar – und am Ende auch das orangefarbene Ei, das Bonuspunkte verspricht. Auch Esra Aydin und Jakob Blasel geben alles, wenn es darum geht, eine gemeinsame Sprache in einer lückenhaften Presseerklärung zu finden. Und schließlich sind die Zuschauer gefragt, als mitten im Spiel die Energiekrise ausbricht, das Licht im Saal ausgeht und sich einer für alle bereiterklärt, kräftig in die Pedale eines Ergometers zu treten, um die Stromversorgung für den Abend sicherzustellen. Die Emotionen gehen rauf und runter – und mit ihnen die IH- und Yolo-Werte.
Und nachdem die Show mit viel Spaß und guter Unterhaltung tatsächlich kräftige (Neben-)Wirkungen beim Publikum entfaltet hat, offenbaren sich spätestens im Spiel “Tipping Points” demokratiepolitisch-philosophische Momente: Wenn Liane Bednarz möglichst viele Streichholzschachteln unter eine einseitig fixierte und mit Muttererde beladene Plexiglasscheibe stapeln muss, ohne dass auch nur ein Krümel Erde hinunterfällt – und hinterher ihren Ergeiz, alle Möglichkeiten auszureizen, selbst als gefährlich entlarvt. Ähnlich geht es Mansour Aalam bei einem Spiel, in dem er die Physik in puncto Oberflächenspannung an ihre Grenzen bringen muss; Esra Aydin, die das eine Teelicht zu viel auf ein nasses Küchentuch stapelt, sodass dieses reißt; und Jakob Blasel, der möglichst viele Umzugskarton aufnehmen muss, ohne dass diese wieder herunterfallen bzw. den Boden berühren. „Bei den planetaren Kipppunkten kennen wir dazu Zahlen”, sagt er, “aber bei den sozialen kennen wir diese Zahl nicht.”
Wann also ist der Punkt, der Veränderung überreizt? Und wie weit können – und sollten – wir gehen, wie lange so weitermachen wie bisher, bevor wir die Kippunkte erreichen? Es werden die meistdiskutierten Fragen sein an diesem Abend im Foyer des Futuriums, wo die Spieler:innen mit den Gästen und den Mitarbeitenden des Futuriums und des Progressiven Zentrums die Show nachklingen lassen. Ovum haben die Spieler:innen an diesem Abend gerettet. Wie es um die Rettung des Planeten Erde steht? Der Diskurs dazu ist weiterhin on fire.
Democracy on Fire ist eine Spielshow von Das Progressive Zentrum in Kooperation mit dem Futurium, dem Haus der Zukünfte.
Fotos
Fotos: Fabian Melber