Im Superwahljahr 2024 drängt sich die Frage auf, wo politische Meinungsbildung stattfindet und wer Einfluss auf diese hat. Insbesondere junge Menschen sind hier im Fokus, denn erstmals dürfen bei den deutschen Wahlen zum Europäischen Parlament auch alle ab 16 Jahren ihre Stimme abgeben. Gleichzeitig greift eine Mental Health Krise bei jungen Menschen um sich und die Forschung zeigt, dass mentale Probleme wie Einsamkeit empfänglich machen für autoritäre Einstellungen. Die Ausgangslage für die Demokratie ist also denkbar schlecht: Angeschlagene Jugendliche treffen auf Social Media auf populistische bis rechtsextreme Inhalte, die von Algorithmen auch noch bevorzugt ausgespielt werden.
Was das für Gesellschaft und Politik bedeutet, wollten Das Progressive Zentrum und die Bertelsmann Stiftung genauer wissen. In einem Roundtable-Format diskutierten Expert:innen, Abgeordnete und interessierte Zuhörer:innen den Einfluss von TikTok, Twitch und andere Social Media auf das demokratische Mindset junger Menschen.
Strategische Manipulation und begünstigtes Suchtverhalten
Die Runde der Diskutierenden betonte die Wichtigkeit von öffentlichen, differenzierten Debatten über die Chancen und Risiken von Social Media und den Einflüssen Künstlicher Intelligenz (KI) auf diese digitalen Räume. Stakeholder und politisch Verantwortliche müssten die Auswirkungen von KI verstehen, um diesen begegnen zu können.
Klar sei schon jetzt: KI wird Wahlkampfstrategien revolutionieren, die Automatisierung von Wahlprozessen beschleunigen und eine strategische Manipulation von Wähler:innen ermöglichen. KI-Tools erlauben es, Social Media Content schnell zu erstellen und ihn zu hyperpersonalisieren. Dadurch wird der Informationsraum schon jetzt mit synthetischen Postings und Desinformation überschwemmt. Dabei sei das Ziel nicht nur, Falsches glaubwürdig zu machen, sondern zu erreichen, dass Nutzer:innen grundsätzlich alle Informationen anzweifeln.
Welche Auswirkungen digitale Informationsräume auf die mentale Gesundheit haben können, wurde im Austausch beleuchtet. Soziale Medien könnten das Wohlbefinden zwar positiv wie negativ beeinflussen. Allerdings begünstigten die Algorithmen negative Auswirkungen, indem sie etwa Inhalte mit Hass und Hetze sichtbarer machen oder durch ihr Design Suchtverhalten begünstigen. Angebot psychosozialer Krisenberatung sowie Aufklärung und Entstigmatisierung – vor allem auch in den sozialen Netzwerken – können diesen Problemen begegnen.
Defizit einer gemeinsamen demokratischen Strategie für Social Media
Betont wurde, dass Social Media ein Tool für alle politischen Parteien sei, mit dem das demokratische Mindset geprägt werden kann. Nur nutze es die AfD zur Zeit am erfolgreichsten. Um dem entgegenzutreten, brauche es eine gemeinsame Strategie. Die nötigen Ressourcen bei den demokratischen Parteien seien vorhanden – es fehle aber an Koordination.
Deutlich wurde auch der Zusammenhang zwischen Jugendschutz und Demokratie. Behörden seien hier nicht nur in der Pflicht, Regulierung umzusetzen. Es gehöre auch dazu, über die Funktionsweise rechtsextremer Narrative aufzuklären: Geschichten werden emotionalisiert, es gibt eine Aufteilung in Gut und Böse – mit der Aufforderung zur Tat. Dem könne man nur auf stabiler rechtlicher Grundlage wirksam begegnen. Insbesondere die Normen zur Plattformregulierung wie der EU-weit geltende Digital Services Act sind mittlerweile so konkret, dass systemischer Jugendschutz möglich wird.
Dilemma und Wendepunkt
In der anschließenden Diskussion wurde das Dilemma für Politiker:innen hervorgehoben. Eine Bundestagsabgeordnete beschrieb, sie stehe vor Wahl, Social Media rechtsextremen Akteuren zu überlassen – oder sich selbst auf Plattformen anzumelden, die sie etwa wegen Datenschutzproblemen eigentlich nicht legitimieren wolle. Der Rat des Panels: Pragmatisch sein und transparent kommunizieren. Also bei TikTok anmelden, denn nur so sind die Jugendlichen auch erreichbar, aber die Gründe dafür nennen und die Abwägung offenlegen.
Außerdem debattierten die Expert:innen, inwiefern die Einschränkung der Reichweite politischer Inhalte, so wie jüngst durch Meta und seine Plattformen Facebook und Instagram geschehen, hilfreich sein kann. Einerseits könne das die Reichweite extremistischer Inhalte beschränken. Andererseits würde eine Entpolitisierung der Gesellschaft nicht gerade der Demokratie helfen. Ein differenzierter Ansatz könnte aber sein, im Vorfeld von Wahlen die algorithmussortierten Feeds zu deaktivieren und die Plattformen Inhalte rein chronologisch anzeigen zu lassen. So ließe sich verhindern, dass populistische oder extreme Postings überproportional angezeigt würden und gleichzeitig bliebe politischer Kontext sichtbar – nur eben ausgewogener.
Nicht alle Fragen konnten beim Roundtable beantwortet werden. Insgesamt aber, so der Tenor, sei es positiv zu beurteilen, dass die Regulierung in letzter Zeit schneller geworden ist und das gesellschaftliche und politische Bewusstsein für die Relevanz von KI und Social Media steige. Gut möglich, dass wir in der Hinsicht an einem Wendepunkt stünden: Dass Gesellschaft und Politik aufgewacht und sich ihrer Verantwortung bewusst sind – und die richtigen Schlüsse ziehen, um das Mindset junger User:innen – und Neuwähler:innen – hin zu demokratischen und weg von autoritären Einstellungen zu stärken.