Die neue Identitätspolitik der AfD richtet sich nicht nur gegen Migranten, sondern gegen einen Lebensstil. Im Identitätskrieg hat sie auch ohne Sachkompetenz Erfolg, schreibt Policy-Fellow Johannes Hillje in einem Gastbeitrag für den „Tagesspiegel“.
Die AfD fühlt sich derzeit auf der Gewinnerseite. Sie bejubelt die Erfolge radikal rechter Kräfte in Europa, zuletzt von Giorgia Meloni in Italien. Aber nicht nur. Auch hierzulande hat sich ein positiver Trend für die AfD in den Umfragen verstetigt.
Sie ist stärkste Kraft mit 27 Prozent in Ostdeutschland laut „Insa“, bis zu 15 Prozent bundesweit und in Niedersachsen könnte sie am Sonntag ihr Ergebnis der letzten Landtagswahl verdoppeln. Nach derzeitigen Zahlen ist die AfD kein ostdeutsches Phänomen, sondern ein bundesweiter Faktor. Sie ist die Krisengewinnerin unter den Parteien.
Zurecht wird vor einem simplifizierenden Vergleich zwischen Giorgia Melonis Partei Fratelli d’Italia und der AfD, zwischen Deutschland und Italien gewarnt. Doch man sollte auch nicht den Fehler machen, über Gemeinsamkeiten leichtfertig hinwegzusehen, wenn man die rechtspopulistische Konjunktur im Europa der 20er Jahre verstehen möchte.
Eine zentrale Gemeinsamkeit ist die Identitätspolitik. Sie hat sich im Vergleich zum letzten Jahrzehnt, in denen diese Kräfte erst als Anti-Euro-, dann als Anti-Migrationsparteien wahrgenommen wurden, weiter entwickelt. Und sie ermöglicht es der AfD, die derzeitige Energie- und Wirtschaftskrise als Identitätskrise zu verpacken.
Meloni betont ihre Identität als Italienerin, Christin, Mutter und Frau
Über den Wahlsieg Giorgia Melonis schrieb der italienische Journalist Roberto Saviano: „Die Identität wird von ihr propagandistisch eingesetzt.“ Bezeichnend dafür ist ein Auftritt Melonis vor dem „Weltkongress der Familien“, einer Konferenz der globalen religiösen Rechten. „Alles was uns definiert, ist nun der Feind“, sagte sie und klagte an: „Ich darf mich nicht mehr als Italienerin, Christin, Frau, Mutter definieren.
Diese Rede hielt Meloni bereits 2019, dem Jahr, das den Anfang ihres Aufstiegs aus der demoskopischen Irrelevanz bis zur Siegerin der Parlamentswahl markiert. Heute ist Meloni die erfolgreichste rechte Identitätspolitikerin in Westeuropa.
Um Sachkompetenz geht es bei der AfD nicht
Auf den ersten Blick scheint es paradox: So stark die AfD in den Umfragen ist, so schwach sind ihre Kompetenzwerte in den krisenrelevanten Politikfeldern. Ob bei sozialer Gerechtigkeit, Wirtschaft oder Energie, der AfD werden in der Sachpolitik desaströse Kompetenzwerte zugeschrieben. Würden die Bürger allein nach Kompetenz wählen, käme sie laut „infratest dimap“ in all diesen Bereichen kaum über die Fünf-Prozent-Hürde.
Um Sachkompetenz geht es also nicht. Aber um ein Identitätsangebot. Der Soziologe Andreas Reckwitz notierte kürzlich zu den gegenwärtigen sozialen Ängsten: „Verluste sind schmerzhaft, wenn das, was man verliert, ein wichtiger Teil der eigenen Identität war.“
Die Energiekrise wird zur Identitätskrise umgedeutet
Das ist der Ansatzpunkt der AfD. Sie deutet die gegenwärtige Krise zu einer Identitätskrise um, indem sie die Preissteigerungen als politisch geplanten Angriff auf einen vermeintlich kulturtypischen Lebensstil der „Deutschen“ deutet.
Der Angreifer ist in dieser Erzählung nicht Putin, sondern die Bundesregierung. Mit dem Ukraine-Krieg will man ohnehin nichts zu tun haben, man will einfach nur ein „normales Leben“ führen können.
Tatsächlich ist eine spezifische Vorstellung von Lebensführung ein konstitutives Element des Gemeinschaftsgefühls der AfD. Politische Parteien gründen auf solchen „sozialen Identitäten“, also gemeinsamen Merkmalen und Interessen, die im Zusammenspiel mit der persönlichen Identität das Selbstverständnis von Menschen konstruieren. Im Allgemeinen erwachsen soziale Identitäten aus einer doppelten Bewegung von Ein- und Ausgrenzung, der Favorisierung der eigenen Gruppe und der Abwertung von anderen.
Eine Langzeitanalyse der Facebook-Beiträge der AfD, die in dem Buch „Das ‘Wir’ der AfD“ erschienen ist, verdeutlicht, wie die Partei Identifikation durch Kommunikation schaffen will: Das Gruppenbewusstsein der AfD beruht demnach auf der Unterscheidung von kulturellen „Insidern“ und „Outsidern“.
Kultur ist dabei nicht auf Kategorien wie Ethnie oder Religion beschränkt. Als „Outsider“ gelten nicht nur Migranten. Kultur ist auch eine bestimmte Art der Lebensführung, die sich an alltäglichen Dingen wie Mobilität, Ernährung, Kleidung oder Freizeitgestaltung festmachen lässt. Also jene Bereiche des eigenen Lebens, die direkt von der Inflation betroffen sind.
Fleisch oder vegan, Diesel oder E-Auto
Die AfD zieht die Grenze zwischen den Insidern, die einen „typisch deutschen“ Lebensstil pflegen und jenen Outsidern, die sich angeblich davon entfremdet hätten, mitten durch die Gesellschaft: Bei der Ernährung wird die Trennlinie zwischen „Fleisch“ und „Vegan“ gezogen, bei der Mobilität zwischen Diesel und E-Auto, bei der Urlaubsplanung zwischen Billigflug und Nichtflug. Die Outsider gelten als Verräter der eigenen Kultur.
Um was und wen es der AfD geht, verdeutlicht eine Broschüre, die sie für ihre aktuelle Kampagne mit dem Slogan „Unser Land zuerst!“ herausgegeben hat: „Für den vorgeblichen Traum der Regierung von einer ‘besseren Welt’ sollen sich deutsche Bürger in Verzicht üben“, heißt es darin. Mit der verpönten „besseren Welt“ ist eine klimaneutrale Welt gemeint.
Auf der Rückseite werden drei vermeintlich „normale Bürger“ zitiert. Ein Familienvater namens Enrico R. sagt: „Mein geliebtes Auto musste ich wegen der Benzinpreise verkaufen.„ Alle drei „Personas“ sind Menschen aus der traditionellen Mittelschicht, jener Gruppe, aus der die AfD das Gros ihrer Wähler mobilisiert.
Diejenigen, die zur Tafel gehen oder von ihrer Rente die Heizkosten nicht mehr zahlen können, gehören nicht zu ihrer Kernklientel. Schließlich kann man mit Identität weder heizen noch davon satt werden.
Hingegen gilt für die Zielgruppe der AfD, was Soziologe Reckwitz schreibt: „Der Abschied von Automobil, Fernurlaub und fleischlicher Ernährung fällt auch deshalb schwer, weil sie für den Lebensstil der traditionellen Mittelklasse identitätsstiftend wirken.“
Natürlich hat auch die Mittelschicht derzeit Bedarf nach finanzieller Entlastung. Von der AfD bekommt sie jedoch nur Entlastung der anderen Art. Von sozialpolitischen Lösungen lenkt sie aktiv ab. Sie bietet Entlastung von Veränderungsdruck, eine Laufzeitverlängerung eines Lebensstils, dessen Treibstoff billige fossile Energie ist. Die Öffnung von Nord Stream 2 ist daher die Hauptforderung der AfD. Die Pipeline ist das Versprechen von Identitätswahrung.
So ging auch Björn Höcke in seiner Rede am Tag der Deutschen Einheit in Gera nicht mit einem Wort auf die sozialen Nöte im Land ein. Stattdessen schwärmte er von Putins völkischem Nationalismus und nannte Russland „den natürlichen Partner unserer Lebensweise“. Die Bundesregierung hingegen wird mit ihrem Dekarbonisierungsziel zum „internen Outsider“ erklärt, als Feind im Inneren markiert.
Der Freund im Kreml hat passenderweise nicht nur Gas, sondern auch die gleichen illiberalen Ansichten zu LGBT-Rechten oder Pressefreiheit. In der Migrationspolitik geht die radikal Rechte gegen jeden von außen vor. Die neue Identitätspolitik der AfD ist flexibler: Der Freund kommt von außen, der Feind sitzt im Inneren.
Der Gastbeitrag ist am 8.10.2022 auf der Webseite des „Tagesspiegel“ erschienen.