Frankfurter Rundschau: Herr Hillje, in einem neuen Video beschimpft Sahra Wagenknecht die Grünen, sympathisiert mit Putin, verurteilt den angeblichen Wirtschaftskrieg auf Kosten der Deutschen. Das klingt stark nach AfD. Und prompt fürchtet AfD-Chefin Alice Weidel, dass die Frau von der Linkspartei der AfD das Wasser abgraben könnte. Muss Weidel sich Sorgen machen?
Johannes Hillje: Ja, AfD und Wagenknecht sprechen zum Teil das gleiche Milieu an. Aber Weidels Sorgen sagen mehr über Sahra Wagenknecht aus als über die AfD. Wagenknechts Behauptungen decken sich mittlerweile stark mit den Narrativen der AfD. Bei Putin-Nähe, Antiamerikanismus und Grünen-Bashing ist Wagenknecht von der AfD kaum mehr zu unterscheiden.
Und das wird von AfD-Fans honoriert?
Und ob. Bei Demonstrationen des rechtsradikalen Milieus, die wir insbesondere in Ostdeutschland beobachten können, wird Sahra Wagenknecht wie ein Popstar gefeiert, selbst wenn sie nicht anwesend ist. Ihr Name wird skandiert. Sie ist zu einer Ikone im rechtsradikalen Milieu geworden – das kommt nicht von ungefähr.
Warum erzählt Weidel öffentlich, dass sie Angst vor einer neugegründeten Wagenknecht-Partei hätte? Damit schädigt sie doch das Alleinstellungsmerkmal der AfD.
Der Verfassungsschutz bewertet die AfD als rechtsextremen Verdachtsfall. Deshalb ist es für sie von strategischem Nutzen, wenn Protagonisten der sogenannten etablierten Parteien auch Positionen der AfD vertreten. Wagenknecht wird also zur Kronzeugin dafür, dass die Einstellungen der AfD angeblich gar nicht so radikal seien, da sie sich eben auch bei den etablierten Parteien wiederfänden.
Und Wagenknecht unterstützt das noch, indem sie argumentiert, eine Wahrheit bleibe selbst dann die Wahrheit, wenn sie von der AfD vertreten werde …
Sahra Wagenknecht stellt sich in den Dienst einer extrem rechten Partei. Sie behauptet auch, die Grünen seien die gefährlichste Partei im Bundestag – was im Umkehrschluss heißt, dass dies nicht die AfD ist. Eine krasse Verharmlosung.
„Der Anteil an wechselbereiten Wählern ist bei der AfD am geringsten“
In Ihren Analysen stellen Sie fest, dass die AfD sehr treue Anhänger:innen hat. Dann könnte sich Alice Weidel doch beruhigt zurücklehnen.
Tatsächlich belegen Studien, dass der Anteil an wechselbereiten Wählern bei der AfD am geringsten ist – von allen Parteien im Bundestag. Die AfD hat die treueste Wählerschaft, weil sich die meisten ihrer Anhänger nicht vorstellen können, anders zu wählen. Bedeutet auch: Andere Parteien können AfD-Anhänger kaum noch erreichen. Friedrich Merz wollte die AfD halbieren, das ist vollkommen unrealistisch. AfD-Wähler lassen sich nicht wegmobilisieren, höchstens demobilisieren, also dass sie gar nicht wählen.
Bei der Landtagswahl in Niedersachsen hat die AfD erschreckend erfolgreich abgeschnitten. In den Kommentaren wurde dann gern auf den großen Anteil an Protestwähler:innen hingewiesen.
Aber das ist ein Trugschluss! Die Mehrheit der AfD-Wähler entscheidet sich nicht nur deshalb für diese Partei, weil sie mit allen anderen unzufrieden ist. Bei der AfD lässt sich Protest und Überzeugung politisch nicht auseinanderhalten. Meinungsforscher fragen die Wähler nach einer Wahl, ob sie eine Partei aus Überzeugung oder aus Protest gewählt haben. Bei der AfD kommt dann regelmäßig heraus, dass die vermeintlichen Protestwähler in der Mehrheit sind. Dabei wird aber übersehen, dass bei der AfD der Protest die Überzeugung ist, der Protest ist Programm …
… und gehört zur Identität der Partei?
Das ist der Wesenskern von Populismus: die Gegenüberstellung von einfachem Volk und Eliten. Die AfD sortiert alle anderen Parteien bei den sogenannten schädlichen Eliten ein, die das Volk betrügen. Deswegen gehört der Protest gegen andere Parteien wie auch die Delegitimierung unserer demokratischen Institutionen bei der AfD zum Programm.
Community-Building gehörte schon immer zum Erfolgsrezept von Parteien. Die AfD hat es nach ihrer Gründung rasend schnell geschafft, eine Gemeinschaft aufzubauen. Wie konnte das gelingen?
Parteien sind aus bestimmten Milieus heraus entstanden. Die SPD aus dem Arbeitermilieu, die CDU aus dem christlichen, die Grünen aus der Umweltbewegung. Bei der AfD ist das anders. Sie wurde in einer Zeit gegründet, als die sozialen Milieus schwächer wurden. Das hat die AfD erkannt und ihre Anhängerschaft über digitale Kommunikation in den sozialen Netzwerken aufgebaut. Das gesellschaftliche Milieu, in dem die AfD verankert ist, ist die rechtspopulistische Echokammer. Dort hat sie ihre Kernwählerschaft geschaffen und eine kollektive Identität ausgebildet, die die Partei mit ihrer Anhängerschaft verbindet.
„Die AfD setzt stark auf Exklusionsstrategien“
Identitätspolitik basiert auf Aus- und Abgrenzung, auf Ingroups und Outgroups. Wir und die Anderen. Was ist das Besondere bei der AfD?
Die AfD setzt stark auf Exklusionsstrategien. Sie definiert ihr „Wir“ hauptsächlich durch die Ausgrenzung anderer. Die sogenannten Outgroups der AfD sind zum einen Eliten – wodurch sie das „Volk“ nach oben abgrenzt. Zum anderen ethnische Minderheiten und politisch Andersdenkende – damit schafft ist eine kulturelle Abgrenzung von innen und außen, zwischen kulturellen „Bewahrern“ und „Verrätern“.
Welche Rolle spielt dabei die Ideologie der Ungleichwertigkeit?
Eine zentrale Rolle. Diejenigen, die nicht zur AfD gehören, werden als ungleichwertig betrachtet. Nicht nur ethnischen Minderheiten, sondern auch Transgender oder Klimaaktivisten, die auf entmenschlichende Weise beschimpft werden, weil sie angeblich die eigene Kultur bedrohen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist der Kern der Identitätspolitik der AfD. Und sie ist die Brücke zum Rechtsextremismus.
Zur Identitätsstiftung gehört nicht nur, welche Inhalte vermittelt werden, sondern auch, wie sie vermittelt werden – also in welchen Deutungsrahmen sie auftauchen. Wie funktioniert das Framing bei der AfD?
Das Identitätsframing der AfD beruht auf einer speziellen Weltanschauung. Die Partei unterteilt die Gesellschaft in kulturelle Insider und kulturelle Outsider. Deutschstämmige gehören zu den Insidern, Migranten gehören zu den Outsidern. Christen zu den Insidern, Muslime zu den Outsidern. Aber neben Ethnie, Herkunft und Religion geht es auch um Fragen des Lebensstils …
… einen typisch deutschen?
Ja. Die AfD propagiert einen vermeintlich kulturtypischen deutschen Lebensstil. Bei der Mobilität zeichnet sich dieser durch den Diesel aus. In der Ernährung durch den Fleischkonsum. Produziert ein traditionsreicher deutscher Fleischkonzern neuerdings halal, dann wird er von der AfD als Feind markiert, denn das sei ja nicht typisch deutsch. Weitere lebensweltliche Kategorien sind Urlaub mit dem Billigflug oder die Frage des Genderns. Hier geht es also nicht mehr darum, ob jemand deutsch ist, sondern ob er deutsch lebt. Die Trennung wird mitten durch die Gesellschaft gezogen.
„Die AfD kulturalisiert soziale und ökonomische Konflikte“
Diesel, Fleisch, Billigflug als Identitätsrepertoire? Das klingt doch arg schlicht.
Wir dürfen nicht vergessen, dass der Lebensstil identitätsstiftend ist und gegenwärtig auf den Menschen nicht nur ein ökonomischer Druck lastet, sondern auch ein Veränderungsdruck. In der Politik und den öffentlichen Debatten wird gewarnt, dass wir unser Leben ändern müssen, damit wir nicht in der Dauerkrise landen. Das macht AfD-Anhängern Angst. Der Abschied von Putins Gas ist auch der Abschied von einem Lebensstil, der von fossiler Energie angetrieben wird. Diesen Lebensstil hat die AfD zur Identität erhoben. Deshalb kann sie die derzeitige Energie- und Wirtschaftskrise in eine Identitätskrise umdeuten.
Kulturelle Faktoren sollen bei der Identitätsstiftung à la AfD tatsächlich eine größere Rolle spielen als soziale und ökonomische?
Die AfD kulturalisiert soziale und ökonomische Konflikte. Natürlich geht es den Menschen momentan vorrangig um wirtschaftliche Probleme, um ihr finanzielles Auskommen. Sie sind sozial verunsichert. Aber die AfD überführt die soziale in eine kulturelle Verunsicherung. Sie hat weder in der Sozial- noch in der Wirtschaftspolitik ein Angebot. Sie gewinnt derzeit hinzu, weil der soziale Konflikt von anderen Parteien nicht scharf gestellt wird. Die Kulturalisierung sozioökonomischer Themen gelingt, wenn es an Materialisierung dieser Fragen mangelt.
Aber das stimmt doch so nicht. Neben dem aktuellen Kriegsgeschehen sind dessen soziale Folgen ein Dauerthema für Regierung und Opposition. Oder geht es um den Output, um das, was tatsächlich für die Bevölkerung herauskommt?
Es geht um Vertrauen, ob die Maßnahmen ausreichen werden. Die AfD nutzt das Misstrauen gegenüber der Bundesregierung und den demokratischen Institutionen, um Ängste zu bewirtschaften und für Proteste zu mobilisieren. Dabei können wir uns in Deutschland noch glücklich schätzen, dass das Vertrauen der Mehrheit in die Demokratie grundsätzlich hoch ist …
Wobei alle Umfragen zeigen, dass die Unzufriedenheit und das Misstrauen deutlich gewachsen sind …
Die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie ist zuletzt gestiegen. Diese Unzufriedenen sind nicht überzeugt von den Entlastungspaketen der Bundesregierung. Diese Gruppe spricht die AfD neben ihrer Stammwählerschaft heute an und behauptet, dass die Bundesregierung einen Wirtschaftskrieg gegen die eigene Bevölkerung führt. Dass sie die Härten bewusst herbeiführt, um eine kulturelle Veränderung und den Abschied vom gewohnten Lebensstil zu erzwingen. Entscheidend wird sein, welche Deutung überzeugender ist.
„Kulturelle Identitätspolitik der AfD ist thematisch flexibel“
Bedeutet die Kulturalisierung der Konflikte durch die AfD, dass die Partei quasi bei jedem Problem andocken kann, um es zu skandalisieren? Lange Zeit versuchte sie ja mit Themen zu punkten, die bereits ressentimentgeladen waren – wie Migration oder die Pandemieverordnungen.
Die kulturelle Identitätspolitik der AfD ist thematisch flexibel. Bei der Flüchtlingsdebatte hat sie die Konfliktlinie beim „Innen gegen Außen“ gezogen. Die kulturfremden „Bösen“ kommen von außen, die „Guten“ sind drinnen. Der Freund ist innen, der Feind kommt von außen. Heute ist der Freund plötzlich Wladimir Putin …
… und der sitzt im Kreml.
Putin kann nicht nur den von der AfD propagierten Lebensstil sicherstellen, sondern hat auch im Blick auf Pressefreiheit, Geschlechterpolitik etc. die gleichen Einstellungen. Hier sitzt der Freund also draußen, und der Feind in Gestalt der Bundesregierung drinnen. Die kulturelle Identitätspolitik hat die AfD thematisch unabhängig gemacht. Sie kann deshalb gerade Akteure im Inneren zu Feinden erklären – mal die Klimabewegung, mal die Bundesregierung oder auch Medien und Unternehmen.
Die AfD versucht, ihre Anhängerschaft bei den Gefühlen zu packen. Vergessen die anderen Parteien zu oft, dass zur Vermittlung von Politik nicht nur das Rationale, sondern auch das Emotionale gehört?
Absolut! Bei den anderen Parteien gibt es oft eine falsche Vorstellung von Emotionalität. Sie wird schnell mit Entsachlichung gleichgesetzt. Sigmund Freud hat schon gesagt, dass das Gelingen zwischenmenschlicher Kommunikation zu 80 Prozent auf Emotionen beruht und das gilt auch für politische Überzeugungsarbeit. Politische Emotionen sind keineswegs nur starke Affekte wie Angst und Wut. Emotionales Denken bezieht sich auch auf Werte. Wenn man in der Politik stärker mit Werten und Narrationen kommuniziert, spricht man das emotionale Denken an. Emotionen positiv zu nutzen – im Gegensatz zur AfD, die sie manipulativ einsetzt – sollten andere Parteien stärker beherzigen.
Die Fragen stellte Bascha Mika. Das Interview ist am 6. November 2022 auf der Website der „Frankfurter Rundschau“ erschienen.