Innocracy25 – Wie hältst Du’s mit der Demokratie?

Wie hältst Du's mit der Demokratie? Um diese Frage ging es bei der Innocracy25 am 26. Juni 2025 im Berliner Z/KU.

Die Demokratie ist politisiert wie lange nicht: Von rechtsextrem bis links, alle wollen sie verteidigen, bewahren oder verbessern. Schwebt radikalen Populist:innen dabei eine ernsthaft andere Demokratiedeutung vor oder nutzen sie das Wort einfach als Verschleierungstaktik für antidemokratische Ziele? Sind liberal-demokratische Kräfte sich einig, wo die Grenzen der Demokratie verlaufen – und sind sie bereit, selbstkritisch zu fragen, welchen Anteil sie an der Krise der Demokratie tragen? Wie kann der Balanceakt zwischen Bewahren und Erneuern gelingen? Darum ging es bei der Innocracy25 am 26. Juni 2025 im Berliner ZK/U.

Als am Abend der Innocracy25 die Sonne über dem Berliner Westhafen untergeht, haben dort mehr als 60 Speaker und 200 Gäste einen ganzen Tag lang über den Zustand, die Potenziale und sinnvolle Reformen der Demokratie in Deutschland diskutiert. Dabei wirkte die charmante Baustellenkulisse des Zentrums für Kunst und Urbanistik (ZK/U) thematisch passend für die tatsächlichen wie die potenziellen Veränderungen der Demokratie.

Den Startschuss gaben Paulina Fröhlich und Juliane Baruck von Das Progressive Zentrum, die ihr gemeinsam mit Kollege Carl Schüppel verfasstes Impulspapier am Morgen bei der Eröffnung der Konferenz vorstellten. Ausgangspunkt war dabei die Politisierung der Demokratie – sowohl durch die Gegner:innen als auch die Verteidiger:innen ihrer liberalen Form. Das Erstarken der Demokratie zersetzenden Kräfte nehme gefährliche Züge an, so die Autor:innen. So ist die AfD im Deutschen Bundestag mit 151 Plätzen die zweitstärkste Kraft. Mit den Vereinigten Staaten wird eine der ältesten Demokratien von Donald Trump zunehmend autoritär beherrscht. Alles halb so wild?

Innocracy25: Paulina Fröhlich und Juliane Baruck beim Impuls zur Eröffnung der Konferenz

Nimmt man die AfD und die MAGA-Republikaner:innen beim Wort, geht es ihnen nur um die wahre Demokratie. Populistisch ist diese Aussage schon insofern, als jene, die sie äußern, die Wahrheit schlechthin für sich allein in Anspruch nehmen. Was aber verbirgt sich hinter dieser Aussage? Dafür boten Paulina Fröhlich und ihre Co-Autor:innen drei Erklärungsansätze an: erstens eine plumpe Verhüllungstaktik, die den dahinter liegenden Rechtsextremismus nur verschleiern soll; zweitens eine radikal andere Demokratiebehauptung, die den Demokratiebegriff bis zur Unkenntlichkeit verzerrt; und drittens ein strategisches Umdeutungsmanöver, das zum Ziel hat, dem eigenen Machtanspruch Legitimität zu verleihen. Die wichtigste Brandmauer dagegen sei, diese Strategien als solche zu erkennen statt radikalen Populist:innen die Dignität des Demokratiebegriffs zu überlassen. Solange nämlich die AfD als antidemokratisch gelte, werde keine Partei des demokratischen Spektrums sie an der Macht beteiligen.

Die AfD reagiere darauf auf zwei Weisen: zum einen, indem sich ihre Vertreter:innen auch mal auf die Zunge bissen und sich zum Schein einer demokratischen Kooperationsfähigkeit in Zurückhaltung übten – was offenkundig nur begrenzt gelänge; zumindest bislang. Die andere und vorherrschende Strategie aber bestünde im Versuch, den eigenen Extremismus zu normalisieren. Dabei gelänge es, reale Sorgen der Wähler:innen durch eine emotionale Ansprache in Zustimmung umzumünzen. Dem demokratischen Spektrum und dem progressiven Lager im Besonderen gelänge es dagegen mehr schlecht als recht, dem Angebote entgegenzustellen, die emotional verfangen. Über den Umgang mit der AfD hinaus fehle es zudem an einer kohärenten Strategie bei der Bedienung der beiden zentralen Hebel der Demokratiepolitik: einerseits die Verteidigung des Bestehenden, andererseits dessen Weiterentwicklung.

Präzedenzfällen für Demokratieabbau auch auf lokaler und regionaler Ebene begegnen

Diese Frage wurde bei der anschließenden Paneldiskussion zum Strukturbruch der liberalen Demokratie diskutiert. Das gegenwärtig signifikanteste Beispiel für diesen Bruch mit formellen und informellen Strukturen der liberalen Demokratie ist die zweite Präsidentschaft Donald Trumps. Welche historischen Tatsachen den Boden für die Wahl Trumps bereitet haben und wo sie hinführt, wurde zu Beginn der Session von Cathryn Clüver Ashbrook, Executive Vice President der Bertelsmann Stiftung und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Progressiven Zentrums, dargelegt. So sei die zentrale Strategie der MAGA-Republikaner:innen, immer wieder neue Präzedenzfälle für den Demokratieabbau zu schaffen. Eine institutionelle Grundlage dafür sei eine Politik der Obstruktion, die bereits seit Anfang der 1980er-Jahre den Kompromiss in der US-amerikanischen Demokratie diskreditiert habe. Eine weitere, materielle Grundlage liege darin, dass nach der Finanzkrise für 88 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung der amerikanische Traum ausgeträumt sei. Zeichen der Hoffnung sah Clüver Ashbrook vor allem auf lokalen und regionalen Ebenen, auf denen man noch den Eindruck habe, die US-Demokratie sei ein lernendes System.

Cathryn Clüver Ashbrook spricht darüber, welche historischen Tatsachen den Boden für die zweite Wahl Trumps bereitet haben

Das Potenzial der Fokussierung auf lokale und insbesondere urbane Räume wurde von Jürgen Czernohorszky (SPÖ), amtsführender Stadtrat für Klimaschutz, Umwelt und Demokratie in Wien, auch für Österreich bestätigt. Auf Bundesebene ist für ihn Österreich ein Negativbeispiel für den Umgang mit radikalem Populismus, da die FPÖ vornehmlich durch die Konservativen hoffähig gemacht worden sei. Wie sollte man stattdessen vorgehen? Für Deutschland sieht Josephine Ortleb, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages für die SPD, den richtigen Zeitpunkt für ein Prüfverfahren der Verfassungsmäßigkeit der AfD gekommen – nicht zuletzt deshalb, weil es der AfD zunehmend gelänge, sich zumindest im Deutschen Bundestag auf die Zunge zu beißen und dadurch ihr eigentliches Ansinnen einer Untergrabung der liberalen Demokratie zu verschleiern.

Vier Vorwürfe zur Frage des demokratischen Anteils an der Krise

Wie aber steht es um den Anteil liberaler Demokrat:innen selbst an der Krise der Demokratie? Ausgangspunkt der Diskussion darüber waren vier Vorwürfe, die Paulina Fröhlich und Juliane Baruck im Rahmen der Eröffnung vorgestellt hatten: erstens eine Entfremdung zwischen politischen Eliten und Bürger:innen; zweitens eine übermäßige Verrechtlichung, die den Spielraum für politisches Handeln verengt; drittens Mängel an sichtbarem Output; und viertens die Normalisierung des Antidemokratischen.

Zu diesen Fragen hat Philip Manow, Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Universität Siegen, mit seiner „Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde” 2024 eine viel diskutierte Studie vorgelegt. In Hinblick auf den Vorwurf einer zunehmenden Entfremdung des Volkes von den politischen Eliten hob Manow in der Paneldiskussion zunächst hervor, dass die Selbstkorrekturmechanismen der repräsentativen Demokratie in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern gut funktionierten. Das läge auch an der für das deutsche Wahlrecht spezifischen Mischform, bei der Bundestagsabgeordnete über die Wahlkreise mit lokal spezifischen Gegebenheiten verbunden sind, während sie über die jeweiligen Landeslisten zugleich die Repräsentation des Volkes als ganzem beanspruchen könnten. Die lokale Verankerung über die Wahlkreise wurde durch die konkreten Erfahrungen der drei Bundestagsabgeordneten Tijen Ataoğlu (CDU), Maja Wallstein (SPD) und Katrin-Göring Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) bestätigt. 

Selbstkritik oder Selbstzerlegung? Katrin-Göring Eckardt (Bündnis90/Die Grünen) im Gespräch mit Tijen Ataoğlu (CDU),
Philip Manow (Universität Siegen) und Maja Wallstein (SPD), moderiert von Julia Reuschenbach (Freie Universität Berlin) (v.r.n.l.)
Selbstkritik oder Selbstzerlegung? Katrin-Göring Eckardt (Bündnis90/Die Grünen) im Gespräch mit Tijen Ataoğlu (CDU), Philip Manow (Universität Siegen) und Maja Wallstein (SPD), moderiert von Julia Reuschenbach (Freie Universität Berlin) (v.r.n.l.)

Ungleich weniger Verständnis gab es für Manows Antwort auf die Frage, warum die Kritik an seinsvergessenen Eliten gerade jetzt so stark geworden ist. Dies lasse sich ihm zufolge vor allem auf einen liberalen Overstretch durch ein seit den 1990er-Jahres stetig stärker wirkendes Verfassungsrecht zurückführen. Ein Problem sei dabei gewesen, dass die vor 1990 für die Bundesrepublik charakteristische Verfassungsgerichtsbarkeit in viele weitere Staaten exportiert wurde, die dafür die nötigen Voraussetzungen nicht erfüllten – insbesondere im Osten Europas. Darüber hinaus seien über die europäische Integration immer mehr Politikbereiche aus der Wahlarena herausgenommen und in den europäischen Verträgen festgeschrieben worden. Dadurch könnte die demokratische Selbstkorrektur über den Wahlmechanismus nicht mehr funktionieren. In ihren Repliken setzten Bundestagsabgeordnete die Verfassungsgerichtsbarkeit mehr oder weniger mit dem Rechtsstaat gleich und warben für die vielen Vorteile Europas.

Damit machten sie es Manow in seiner Erwiderung leicht: Weder plädiere er für die Abschaffung des Rechtsstaats, noch lasse sich der abnehmende Zuspruch zur Europäischen Union auf ein reines Kommunikationsproblem zurückführen. Offen blieb dagegen, was aus den von ihm hervorgehobenen Selbstkorrekturmechanismen für die Abgeordneten der demokratischen Mitte folgen würde: zumindest Teile des politischen Programms der AfD zu übernehmen? Dadurch würde der Vorwurf einer weiteren Normalisierung dieser Positionen umso mehr ins Schwarze treffen. Vielleicht wäre stattdessen die Entwicklung eines je eigenen, attraktiven Programmes nötig, mit denen Parteien des demokratischen Spektrums wieder mehr Stimmen für sich gewinnen könnten? Eine Frage, auf die im Laufe der Veranstaltung noch zurückzukommen zu sein sollte.

Kommunale Handlungsfähigkeit: Es geht nicht allein um Geld

Am Nachmittag der Innocracy25 wurde ein weiterer Aspekt der lokalen Demokratieverankerung in der Bundesrepublik diskutiert: die Rolle der Kommunen im föderalen Gefüge. Zwischen den teilnehmenden Panelist:innen herrschte Einigkeit darüber, dass die zwar unterschiedliche, aber in den meisten Fällen eben mangelnde finanzielle Ausstattung der Kommunen die größte Herausforderung für ihre politische und administrative Arbeit vor Ort ist. Sebastian Jobelius, Leiter der Gruppe Digitales und Staatsmodernisierung im Bundeskanzleramt, hob allerdings hervor, dass es bei der kommunalen Handlungsfähigkeit nicht allein ums Geld gehe. Vielmehr gäbe es große Einsparpotentiale, zum Beispiel durch eine digitale Abrechnung des Wohngeldes. Laut Jobelius wäre schon sehr viel gewonnen, wenn alles, was im Bereich von Digitalisierung und Staatsmodernisierung geplant sei, auch umgesetzt würde. 

Simone Großner (CDU), Staatssekretärin für Bundes- und Europaangelegenheiten und Bevollmächtigte des Landes Sachsen-Anhalt beim Bund, betonte, dass eine Umsetzung aller geplanten Strukturreformen durchaus der Arbeit einer dritten Föderalismuskommission gleichkäme. Man habe das nur nicht so nennen wollen – vielleicht auch, um bei einem Scheitern nicht den schon vorhanden Frust mit dem Föderalismus noch zu befördern? Onyeka Oshionwu (Bündnis 90/Die Grünen), ehrenamtliche Bürgermeisterin der Stadt Göttingen, wies darauf hin, dass Bürger:innen vor Ort oft nicht klar sei, wie gering der Anteil nicht bereits fest gebundener Haushaltsposten sei, der den Kommunen für eigene politische Projekte zur Verfügung steht. Umso wichtiger sei es, zumindest einen Teil dieser freien Mittel für Projekte zur Verfügung zu stellen, die von den Bürger:innen selbst gestalten werden könnten. Dies, sei auch angesichts der abnehmenden Verankerung von Parteien für das Gedeihen der Demokratie unverzichtbar, wie auch Jobelius und Großner fanden.

Mehr Beteiligung = mehr Demokratie?

Verschiedene Möglichkeiten einer solchen Beteiligung wurden in einer anschließenden Session unter dem Titel „Demophobie? Für und Wider direkter und deliberativer Beteiligung” diskutiert – unter dem Eindruck dreier leidenschaftlicher Eingangsplädoyers. Den Auftakt machte Ralf-Uwe Beck, Sprecher des Bundesvorstands von Mehr Demokratie e. V., mit einer Kritik der real existierenden Repräsentativdemokratie: Hauptproblem sei, dass viele Kompromisse in Hinterzimmern ausgehandelt würden. Anders als solche Verhandlungen sei die direkte Demokratie auf Länderebene nicht Teil des politischen Alltags – und sollte das auch auf Bundesebene nicht sein. Sie läge aber zentrale und besonders umstrittene Fragen durch Referenden in die Hände der Bürger:innen. Letztlich werde dadurch die bestehende Demokratie repräsentativer, da sie die Präferenzen der Bürger:innen besser abbilde.

Gisela Erler, bis 2021 Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg, zeigte sich hier skeptisch: Volksentscheide würden aufgrund der ihnen eigenen Ja/Nein-Dichotomie keine Kompromisse erlauben. Dadurch könnten ihre Ergebnisse umso stärker den eigenen Präferenzen widersprechen, was zu weiteren Verwerfungen führe – so geschehen beispielsweise auch bei dem von ihr organisierten Volksentscheid zum umstrittenen Großprojekt Stuttgart 21. Geloste Bürger:innenräte ermöglichten demgegenüber kluge und realisierbare Kompromisse. Mark Schieritz, stellvertretender Ressortleiter Politik bei der ZEIT, hob dagegen die ergebnisorientierte Kompromissfähigkeit des politischen Hinterzimmers hervor. Dem Volk hingegen müsse man durchaus mit einem gewissen Misstrauen begegnen. Mehr Beteiligung führe nicht unbedingt zu mehr Demokratie – und schon gar nicht zu ihrer höheren Effizienz und Effektivität. 

Gebeten, sich im Raum einer der drei Personen und Positionen zuzuordnen, offenbarte sich die Präferenz einer deutlichen Mehrheit der Session-Teilnehmer:innen für Deliberation. Aus dem Publikum wurde aber auch die Frage gestellt, ob man nicht zuerst deliberieren und dann direkt abstimmen könnte. Ralf-Uwe Beck verwies diesbezüglich auf das irländische Modell, bei dem zu so einer umstrittenen Frage wie der Abtreibung in einem katholisch geprägten Land zunächst ein Bürgerrat Kompromisslinien erarbeitet und dann das Volk in einem Referendum für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts stimmte. Für eine solche Prozedur sollten seiner Ansicht nach auch hierzulande die Voraussetzungen geschaffen werden. 

Für Renate Künast, die als langjährige Spitzenpolitikerin von Bündnis 90/Die Grüne Erfahrungen in verschiedenen Ämtern der Bundespolitik sammeln konnte, war das eine spannende Perspektive. Sie betonte, dass die oft beschworenen Gefahren nicht so groß seien, da man auf Bundesebene ohnehin jene Fragen nicht durch Referenden entscheiden könne, bei denen auch der Bundesrat zustimmen müsse. Dem ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht Peter M. Huber zufolge ist für eine derartige Ausweitung viel Detailarbeit nötig. Große Parolen führten nicht weiter. Manchmal brauche es durchaus „einen Hammer, den das Volk ergreifen kann, um Einfluss zu nehmen”. Es komme aber darauf an, wie dieser Hammer gestaltet ist – und auf welche Nägel er hauen darf. Minderheitenrechte von Bürger:innen ließen sich in einer liberalen Demokratie durch ein Verfassungsgericht jedenfalls auch vor Mehrheiten in Referenden schützen. Daher wären die Gefahren einer direkten Demokratie geringer als immer wieder beschworen.

Überdehnung von Gemeinsamkeiten als Gefahr für Koalitionen der Mitte

Wie könnte vor dem Hintergrund solcher Reformvorschläge die Demokratie im Jahre 2050 aussehen? Diese Frage bildete die Überschrift des Abschlusspanels. Im Fokus der Diskussion stand dabei vor allem die laufende Legislaturperiode. Wolfgang Schroeder, Vorsitzender des Progressiven Zentrums, hob drei Punkte hervor: Erstens sei die Bundesrepublik durch institutionelle Hyperstabilität gekennzeichnet. Zweitens hätten die Parteien der demokratischen Mitte vor allem Performanzdefizite. Daher bestünde drittens die Herausforderung für jene Parteien vor allem darin, einerseits in Konkurrenz zueinander zu stehen, andererseits aber mit den Extremist:innen der AfD einen gemeinsamen Umgang finden zu müssen. Die große Gefahr für Koalitionen der Mitte sah er dabei in der Überdehnung von Gemeinsamkeiten, die zu einer weiteren Verwässerung des je eigenen Profils führe.

Franziska Brantner, Mitglied des Deutschen Bundestages und Co-Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, befand es als nicht so schwierig, die von der demokratischen Mitte gemeinsam getragenen Verantwortung für das Land vom je eigenen Profi zu unterscheiden: Verbesserungen der Verteidigungsfähigkeit seien eben etwas anderes als eine wirklich effektive Klimapolitik. Darüber hinaus betonte sie, dass der Kampf gegen die AfD nicht mit Warnungen vor dem Untergang der Demokratie zu gewinnen sei. Empirisch zeige sich vielmehr, dass potenzielle AfD-Wähler:innen von einem Kreuz bei jener Partei Abstand nähmen, wenn man ihnen deren konkreten Politikinhalte vor Augen führe – bei Frauen etwa, dass es keinen Mindestlohn mehr gäbe und Windräder abgebaut würden, bei Männern der angestrebte Austritt aus dem Euro und Binnenmarkt. 

Auch Andreas Jung, stellvertretender Vorsitzender der CDU- Bundestagsfraktion und unter anderem für die Themen Umwelt, Klimaschutz, Naturschutz und nukleare Sicherheit sowie Nachhaltigkeit zuständig, war der Ansicht, dass man die AfD vor allem durch eine bessere Problemlösungsfähigkeit wieder kleiner kriege. Der Klimaschutz lasse sich dabei genuin konservativ durch eine Bewahrung der Mutter Erde begründen. Konkret bedeute das für seine Partei aber eben etwas anderes als für die Grünen: etwa die Nutzung von Technologien wie die Speicherung von Kohlendioxid im Untergrund, um Deutschland als Industrieland konkurrenzfähig zu halten sowie eine Senkung der Gasspeicherumlage, um durch Entlastungen die Akzeptanz bei der Bevölkerung für die Transformation zu erhöhen. Auf dieser Grundlage ließen sich dann auch Zumutungen, wie etwa die Einführung eines gerade in der Diskussion stehenden Dienstjahres vermitteln. Ein solches sende schließlich auch das Signal, dass die Bürger:innen selbst etwas zur Lösung der Probleme unserer Zeit beitragen könnten.

 

Wie könnte die Demokratie im Jahre 2050 aussehen? Das diskutierten Andreas Jung, Franziska Brantner und Wolfgang Schroeder, moderiert von petra Pinzler (v.r.n.l.)

Brantner betonte, dass dazu eine effektivere Klimapolitik ebenfalls zählen müsse; auch dazu könne jede:r etwas beitragen. Die Förderung von Gasspeichern führe hingegen dazu, dass die Konkurrenzfähigkeit echter Innovationen in der Klimatechnologie staatlich geschwächt würde. Ob derartige Diskussionen Bürger:innen tatsächlich für die ein oder andere Partei der demokratischen Mitte begeistern können, scheint fraglich. Sie führen aber vor Augen, um welche konkreten Policies es bei der oftmals geforderten Verbesserung politischer Handlungsfähigkeit in einer modernen Gesellschaft geht. Wie aber kann nicht nur Verständnis für konkrete Policies, sondern auch für Begeisterung für die Demokratie geweckt werden?

Der neu aufkommenden Hegemonie des Rechtsextermismus’ mit besser gelaunter Ausstrahlung entgegentreten

Das führte Julia Reuschenbach, Politikwissenschaftlerin und Autorin, in ihrem Gespräch mit dem SPD-Bundestagsoabgordneten Hubertus Heil abschließend vor. Nach einem langen Tag, bei dem ein zwischenzeitliches Gewitter nur ein wenig Abkühlung brachte, entschlossen sie sich, ihre Abschlussdebatte im Stehen zu führen. Die Energie von Setting und Debatte übertrug sich direkt auf das Publikum. Der von Robert Pausch in der ZEIT provokativ vorgebrachten Kritik am demokratischen Spektrum, die AfD führe gegenwärtig die spannenderen Strategiedebatten, begegnete der ehemalige Bundesminister für Arbeit und Soziales Heil, mit einem Verweis auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci. Dieser habe in seinen Ende der 1920er-Jahre als politischer Gefangener verfassten Schriften gezeigt, dass es durch eine rechtsextreme Hegemonie zum italienischen Faschismus gekommen sei. Wenn Progressive in den 2020er-Jahren einer neu aufkommenden Hegemonie des Rechtsextermismus’ entgegentreten wollen, müssten sie eine besser gelaunte Ausstrahlung entfalten. Sicher müssten auch mit Konservativen konkrete Policyprobleme gelöst werden – das dürfe aber nicht alles sein: „Wir sind zu sehr kalte Technokraten der Macht geworden und begegnen den Leuten auch so – und das ist ein Fehler”. 

Programmatisch, so Heil, sollte die Sozialdemokratie wieder die Verteilungsfrage in den Mittelpunkt der Debatten rücken. Dabei gehe es vor allem um das Missverhältnis bei der Verteilung von Erwerbseinkommen und Unternehmensgewinn. Zum achten Mal die Bürgerversicherung in ein Parteiprogramm zu schreiben und dann wieder nicht umzusetzen, führe jedoch nicht weiter. Stattdessen müsse „Luft in den Laden” gelassen werden, um gemeinsam mit Bürger:innen neue Konzepte jenseits der etablierten Parteistrukturen zu entwickeln. In einer solchen Verbindung von repräsentativer Demokratie und neuer Formen der Bürger:innen-Beteiligung läge auf lange Sicht die Chance, wieder Mehrheiten links der Mitte zu bilden und dadurch Zuversicht zu vermitteln. Damit eröffnete sich zum Ende eines langen Konferenztages eine weitere Perspektive, wie sich die Grundmauern der Demokratie nicht nur verteidigen, sondern auch erweitern und modernisieren ließen – ganz so, wie es der Tagungsort der Innocracy, das ZK/U, versinnbildlicht.

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