Portraitfotos von Wolfgang Schroeder und Dominic Schwickert

Standpunkt des Progressiven Zentrums: Die Ampel muss neu starten

Prof. Dr. Wolfgang Schroeder und Dominic Schwickert formulieren im Berlin.Table Bedingungen für einen Ampel-Neustart.

Die Beliebtheitswerte der Ampel-Koalition sind auf ein Allzeit-Tief gesunken. Wenn es der Anspruch der Regierungsparteien ist, die Allianz in eine weitere Legislatur zu tragen, braucht ihre Erzählung zur Halbzeit im September 2023 eine Rundum-Erneuerung. Und ein: Wir haben verstanden. Ein Gastbeitrag von Wolfgang Schroeder und Dominic Schwickert.

Es sieht momentan nicht gut aus für die Ampel. Dem aktuellen Deutschlandtrend zufolge ist nur noch jeder fünfte Befragte mit der Arbeit der Regierung zufrieden. Nur ein Prozent gibt an, „sehr zufrieden“ zu sein, 34 Prozent sind es „gar nicht“. Gleichzeitig feiert die AfD Umfragerekorde. Die Partei steht – je nach Institut – zwischen 17 und 20 Prozent. Über zwei Drittel (67 Prozent) der potenziellen Wählerinnen und Wähler geben an, aus Enttäuschung über die anderen Parteien für die AfD votieren zu wollen. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass die Beliebtheit einer Regierung einige Zeit nach Übernahme der Regierungsgeschäfte absackt. Doch diese Werte sind eine bittere Bilanz kurz vor der Halbzeit.

Aber steht dieses Zahlenwerk in Relation zur Realität? Ist die Ampel wirklich so schlecht wie es ihre Umfragewerte ausweisen? 

Statt „Fortschrittskoalition“ eher „Krisenbewältigungskoalition“

Es wurde schon oft gesagt und geschrieben – und es stimmt: Die Koalition hatte keinen leichten Start. Als es Ende 2021 losging, war das Land noch von den Auswirkungen der Pandemie betroffen. Wochen darauf überfiel Russland die Ukraine und löste damit den größten militärischen Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg aus. In der Folge entwickelte sich eine Energiekrise, Millionen Geflüchtete machten sich auf den Weg und Deutschland leidet unter einer heftigen Inflationswelle mit allen sozialen und wirtschaftlichen Folgen.

Auf viele Fragen, die aus dieser Polykrise resultieren, hat die Ampel Antworten gefunden: Deutschland unterstützt die Ukraine massiv militärisch, baut seine eigene Verteidigung wieder auf; die Gaspreise sind – auch ohne Lieferungen aus Russland – inzwischen unter dem Niveau vor Kriegsausbruch. Die Konjunktur schwächelt zwar. Aber eine dauerhafte Rezession hat sich nicht eingestellt. Auch die Inflation ist weiter hoch, doch immerhin mit sinkender Tendenz. Das ist nicht ausschließlich, aber zumindest zu einem Teil auch ein Verdienst der Regierung. 

Abgesehen von diesen Reaktionen auf Ereignisse, die bei der Ausarbeitung des Koalitionsvertrages noch nicht absehbar waren, konnte die Ampel auch mehrere zentrale Vorhaben umsetzen, die zur deutlichen Verbesserung der Verhältnisse beitragen: Erhöhung des Mindestlohns, Ausbau der Erneuerbaren, Bürgergeldreform, Reform der Weiterbildung, Erhöhung des Kindergeldes, Bafög-Reform – zuletzt die schwierige Fast-Einigung beim Gebäudeenergiegesetz (GEG). Auch wenn diese Liste ohne den Krieg in der Ukraine vermutlich länger wäre, kann man der Ampel weder vorwerfen, auf aktuelle Krisen nicht zu reagieren, noch, dass sie ihre Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag nicht abarbeiten würde.

Probleme in der Aufstellung – Probleme mit der Bevölkerung

Sicherlich schlägt sich in den schlechten Umfragewerten auch eine verunsicherte Grundstimmung in der Bevölkerung nieder. Drei Jahre Pandemie haben Spuren hinterlassen. Anderthalb Flugstunden von Berlin entfernt tobt ein Krieg, dessen Aggressor Russland wiederholt gedroht hat, Atomwaffen einzusetzen. Gestiegene Preise führen in der Bevölkerung zu Ratlosigkeit. Hinzu kommt, dass politische Versuche, den Klimawandel abzumildern, Deutschland in eine klimaneutrale Nation zu transformieren, oftmals als Angriff auf lieb gewonnene Lebensweisen interpretiert werden. 

Wie ausgeprägt die Transformationspolitik der Bundesregierung im Alltag der Menschen wahrgenommen wird, zeigt das GEG. Dabei gab es nicht nur handwerkliche und kommunikative Fehler. Man kann den desaströsen Eindruck, den die Regierung bei dieser Gesetzgebungsarbeit vermittelte, als kommunikative Überforderung im Sinne eines Reiz-Reaktionsschemas interpretieren: Die Grünen sind zu schnell vorgeprescht, was zu Fehlern geführt hat. Das wiederum hat eine Abwehrhaltung der FDP provoziert, die sich weniger als Anwalt der Umwelt, sondern eher der Grund- und Hausbesitzenden geriert hat – worauf wiederum die Grünen mit einer weiteren Vorwärtsbewegung reagiert haben. Die Opposition hat das Patt instrumentalisiert, und Teile der Presse haben die Stimmung weiter befeuert. Die bis zuletzt unbeteiligt wirkende SPD wurde schließlich der Rolle als Moderatorin doch noch gerecht – allerdings viel zu spät, sodass sie für den Ansehensverlust der Ampel beim GEG neben Grünen und FDP eine nicht unbeträchtliche Mitverantwortung trägt. 

Man kann das Ganze auch als Ergebnis unzureichender Kommunikation mit der Bevölkerung verstehen. Dies wäre fatal, sind doch Grüne und SPD besonders stolz auf ihre demokratische Beteiligungsorientierung. Wie dem auch sei: Die Ampel sollte die vielfältigen, auf verschiedenen Ebenen gelagerten Defizite in diesem Prozess kritisch aufarbeiten. Für die nächsten klimapolitischen Reformen ist er so anschaulich wie lehrreich. Es könnte der Stoff sein, um einen Neustart unter dem Motto: „Wir haben verstanden!“ gut zu begründen. 

Vier Dinge, worauf die Ampel bei einem Neustart achten müsste:

Erstens: Innerkoalitionäre Arbeitsteilung und Politik der ausgestreckten Hand

Die praktizierte Rollenteilung in der Koalition ist gegenwärtig mehr Problem als Lösung. Bisher erschien es von außen betrachtet so: Die Grünen begreifen sich als zentraler Anwalt und vorwärtstreibende Kraft gegen den Klimawandel. Dagegen versteht sich die FDP als bürgerliches Korrektiv. Und die SPD übernimmt mit ihrem sozialen Profil und des Kanzlers Richtlinienkompetenz die Rolle als Moderatorin. Mit dieser Aufstellung scheint die Ampel an ihre Grenze gekommen. Niemand (außer vielleicht den Medien) will einen solchen konfliktären Prozess vor laufenden Kameras erleben. Statt einer Konfliktkoalition braucht dieses Land eine Handlungskoalition, die ihre Konflikte frühzeitig klärt und im Prozess besser auf die Befindlichkeiten der Bevölkerung eingehen kann, ohne sich davon treiben zu lassen. Was derzeit tendenziell der Fall ist.

Gestritten werden sollte vor allem mit der führenden Oppositionspartei. Auch um einer Spaltung der Gesellschaft vorzubeugen, sollten SPD, Grüne und FDP der Union die Hand ausstrecken und sie als konstruktive Opposition begreifen. Denn von der Schwäche der Ampel profitiert momentan fast ausschließlich die AfD. Besonders bei der Union führt die fehlende Strategie im Umgang mit der in Teilen offen rechtsextremen Partei zur Öffnung populistischer Diskursräume. Die Ampelparteien müssen künftig einen besseren Weg finden, um mit der Union in einen produktiven Streit zu treten.

Zweitens: Kommunikativer Vorlauf und intensivere Beteiligung der Bevölkerung

Treiber der ökologischen Transformation sind im Wesentlichen technische Innovationen. Diese verlangen aber gesellschaftliche Akzeptanz, müssen schnell und präzise implementiert, genutzt und weiterentwickelt werden. Das alles greift tief in Lebensalltag und Finanzen der Menschen ein. Darauf muss die Regierung sie argumentativ und emotional vorbereiten; sie muss Anreize setzen, finanzielle Belastungen ausbalancieren und kompensieren. Dazu braucht es – bevor es um konkrete Gesetzesvorhaben geht – politische Debatten, die ein kommunikatives Umfeld schaffen. Es geht also nicht allein darum, dass die Regierung früher informiert. Noch wichtiger ist es, dass sie die Bevölkerung aktiv einbindet, um anders und früher auf die Probleme für den eigenen Alltag vorbereitet zu sein. 

Das ist sicherlich eine Gratwanderung: Schließlich darf die frühe Kommunikation nicht dazu führen, dass Deutschland unregierbar wird. Sie muss dazu beitragen, Geschwindigkeit, soziale Bedarfe, Hindernisse und Spielräume zielgenauer einzustellen und zu adressieren. Bei solchen Eingriffen in die Lebenswelten – und sie sind in der Transformationen unweigerlich – ist es wichtig, sich frühzeitiger, intensiver und differenzierter mit der Perspektive der Betroffenen vertraut zu machen. Dies könnte nicht nur die Regierung, sondern auch die Bevölkerung resilienter machen, um unter den veränderten klimapolitischen Bedingungen die Kontrolle zu behalten. Anhörungen, die dem regulären Gesetzesprozess vorgeschaltet werden, Umfragen, Bürgerräte, Regionalkonferenzen und andere Instrumente könnten in diesem Sinne hilfreich sein. 

Drittens: Agenda der Prioritäten und Signal des Aufbruchs

Das Projekt „Fortschrittskoalition“, der große Plan, mit dem die drei Parteien angetreten sind, stammt aus einer vergangenen Zeit. Die Realität hat sich durch Krieg, Inflation, Energieversorgungs- und Infrastrukturkrise drastisch verändert: Die Aufgaben sind gewachsen, die Mittel eher geschrumpft. Wie sieht unter diesen veränderten Bedingungen eine neue Präferenzordnung aus? Was hat die Bevölkerung in den kommenden zwei Jahren zu erwarten? Viele Menschen fragen sich, wann die viel beschworene Modernisierung des Staates endlich sichtbar wird. Sie fragen sich, wie sich eine marode Infrastruktur trotz Sparhaushalt und schwarzer Null wieder flott machen lässt. Sie wollen wissen, ob die Transformation der Gesellschaft letztlich nur auf eine Mehrbelastung aller hinausläuft, ob sie wirklich funktioniert und ob es einen funktionierenden sozialen Ausgleich gibt. 

Hierzu sollte sich die Regierung im Herbst zu einer erneuerten Agenda aufraffen. Nach der Sommerpause und damit pünktlich zur Halbzeit ihrer Zusammenarbeit könnte die Ampelkoalition ein Signal des Aufbruchs senden. Sie könnte drei oder vier neue Projekte definieren, hinter denen alle drei Parteien gleichermaßen stehen und die das Profil der Regierung als Koalition insgesamt schärfen.

Viertens: Ende der Moralisierung und Aktivierung für den Wandel

Was die Kommunikation anbelangt, ist es notwendig, weniger über moralische Argumente zu steuern, sondern mehr über praktikable Ziele und Anreize. Die grundlegende Transformation, die ja notwendig ist, um den Klimawandel und seine Auswirkungen zu stoppen, wird nur mit der Bevölkerung und nicht gegen sie gelingen. Großbegriffe wie Transformation, Umbau oder Zeitenwende betonen zwar die Dringlichkeit, wirken aber auch drastisch und mutmaßlich überfordernd. Die langfristigen Folgen des Nichthandelns müssen konkretisiert und sollten nicht abstrakt moralisch verhandelt werden. In der Kommunikation über die Veränderungen der Zukunft werden bisher zu wenig die positiven Aspekte, also auch die individuellen Vorteile betont. Statt einer Angsterzählung wie zuletzt beim GEG bedarf es einer positiven Vision, die den Blick fürs „Große Ganze“ schärft und für etwas aktiviert. 

Die Ampel ist als Fortschrittsbündnis angetreten. Doch schwierige Rahmenbedingungen, schlechte Aufstellung, unzureichende Kommunikation und handwerkliche Fehler haben diese Absicht gründlich abgeschliffen. Wenn es der Anspruch der regierenden Parteien ist, die Allianz in eine weitere Legislatur zu tragen, bedarf die Erzählung der Koalition zur anstehenden Halbzeit im September 2023 unbedingt einer Erneuerung. Was dazu nötig ist, läge nah am Kern dessen, was Fortschritt bedeutet: sich zu verändern, anzupassen, neu zu erfinden. Ein Neustart im Herbst 2023 ist nötig – und er ist machbar. Es wäre ein Halbzeitgeschenk, das sich die Ampel im Interesse des Fortschritts in diesem Land machen sollte.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich am 19. Juni 2023 auf der Webseite von Berlin.Table.

Prof. Dr. Wolfgang Schroeder ist Vorsitzender des Progressiven Zentrums. Er hat den Lehrstuhl „Politisches System der BRD – Staatlichkeit im Wandel“ an der Universität Kassel inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Verbände und Gewerkschaften.

Dominic Schwickert

Geschäftsführer des Progressiven Zentrums
Dominic Schwickert ist seit Ende 2012 Geschäftsführer des Progressiven Zentrums. Er hat langjährige Erfahrung in der Politik- und Strategieberatung (u.a. Stiftung Wissenschaft und Politik, Bertelsmann Stiftung, IFOK GmbH, Stiftung Neue Verantwortung, Deutscher Bundestag, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie).
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