Transatlantischer Dialog über Strategien und Wahlkämpfe

US-Wahlkampfexperte Larry Cohen und Ministerin Bettina Martin diskutieren Wege zu progressiven Regierunsbeteiligungen

In den letzten fünf Jahren sind viele politische Systeme rechtspopulistischen Parteien und Tendenzen zum Opfer gefallen. Die aktuelle globale Gesundheitslage und die Klimakrise verstärken diese Bedrohung. Mutige Antworten sind dringend gefordert. Progressive Akteure müssen jedoch Siege an der Wahlurne erreichen, bevor sie ihre Visionen umsetzen können. Larry Cohen und Bettina Martin diskutierten.

Drei Wochen vor der für Generationen richtungsweisenden Wahl in den USA und weniger als ein Jahr vor den deutschen Bundestagswahlen in 2021 lud Das Progressive Zentrum zum transatlantischen Dialog ein.

Progressive Mehrheiten gewinnen wenn es am wichtigsten ist

Progressive AkteurInnen sind sich einig: Regierungsmehrheiten sind dringend notwendig, auf der lokalen, regionalen und nationalen Ebene. Wie diese Mehrheiten gewonnen werden können steht jedoch noch zur Debatte. In den USA arbeiten die Demokraten derzeit daran progressive Mehrheiten zu gewinnen, in städtischen sowie ländlichen Umgebungen und in Wahlkreisen mit Einstellungen von links der Mitte bis streng konservativ-republikanisch. Komplizierter macht das Ganze das Wahlsystem mit dem Electoral College, welches dafür sorgen könnte, dass erneut ein Präsident gewählt wird der nicht die Mehrheit der Stimmen gewann.

In Deutschland bereiten sich mehrere progressive Parteien auf den Wahlkampf der ersten Bundestagswahl seit fast einer Generation vor, in dem Angela Merkel nicht als Kanzlerkandidatin antreten wird – welche politischen Narrative und Ansätze sind wirksam in dieser neuen politischen Ära?

Im Hinblick auf diese politischen Herausforderungen berichten Larry Cohen und Bettina Martin aus ihren jeweiligen Perspektiven darüber, wie progressive AkteurInnen die Wahlen in den USA und in Deutschland sicher gewinnen könnten. Die Diskussion behandelte ein breites Spektrum an Strategien, von einer Reform des politischen Systems und dem Aufbau politischer Bewegungen über ein für alle besser zugängliches Bildungssystems, einem Strategiewechsel in der direkten Diskussion mit Wählerinnen und Wählern am rechten Rand. Einig waren sich beide in der Forderung nach einem grünen, sozialen politischen Programm.

Diskussion zwischen Larry Cohen und Bettina Martin, moderiert von Judith Langowski, GastgeberInnen sind Diego Rivas und Maria Skóra von Das Progressive Zentrum

Das System ändern und eine politische Bewegung aufbauen

Basierend auf seinen Erfahrungen als leitender politischer Berater von Bernie Sanders in 2016 und aus der aktuellen Rolle als Vorsitzender der Organisation “Our Revolution” plädierte Larry Cohen für systemische Veränderungen: “we need to change the rules, not just the rulers” (“Wir müssen die Regeln ändern, nicht nur die die Machthabenden”). Dazu gehöre unter anderem zu ändern wer an den Vorwahlen der Demokratischen Partei teilnehmen kann, das “Electoral College” – also die Versammlung der Wahlfrauen und -Männer – zu reformieren, die Registrierung zur Wahl zu vereinfachen, den Einfluss von Geld im Wahlkampf zu beschränken und die Repräsentation von Washington D.C. im US-Senat zu sichern.

Cohen betonte auch, wie wichtig der Aufbau einer langlebigen politischen Bewegung ist, über einzelne Kandidaten, Wahlkämpfe und Wahlen hinaus. In den US-Wahlen in 2020 bedeutet dass einen Fokus auf anständiger Arbeit, Arbeitsplätzen und der Umwelt im Wahlkampf, aber auch auf Wahlkampfsiege der Demokratischen Partei auf allen Ebenen. Cohens politische Organisationsstrategie orientiert sich an einem Dreieck aus Themen, Wahlsiegen und Aufbau der Partei, indem sichergestellt wird dass die Regeln Beteiligung fördern. 

“Das ist unsere Grundlage: wo beginnt Beteiligung und wie können wir Regeln schaffen, die Beteiligung fördern, denn die Regeln bestimmen darüber. Wenn Menschen denken dass keine Veränderung möglich ist, wieso sollten sie sich zur Wahl registrieren oder gar wählen gehen?”– Larry Cohen

Gespräche und Bildung als Weg nach vorn

Trotz Unterschieden in den politischen Systemen und Kontexten identifizierte Ministerin Bettina Martin Themen, die auf beiden Seiten des Atlantiks Herausforderungen darstellen: der Aufstieg von Rechtspopulismus, Wählerinnen und Wähler in ländlichen Gebieten zu erreichen und sozial gerechte Arbeitsmärkte zu realisieren, die in der Lage sind starke Sozialsysteme zu unterstützen. Eine grundlegende Frage dabei ist, wie Lösungen der Klimakrise mit sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit kombiniert werden können.

“Man muss mit den Menschen reden, die Probleme mit Dingen haben (zum Beispiel grüner Energie), die verständliche Probleme haben. Man muss ihnen zuhören und gemeinsam mit ihnen Lösungen finden, und dabei trotzdem für seine Ideen und Überzeugungen als Politikerin und als Partei einstehen.” – Ministerin Bettina Martin 

Ministerin Bettina Martin plädierte dafür, dass Politikerinnen und Politiker besonders durch Gespräche mit ihren Wählerinnen und Wählern in Kontakt kommen sollten: Es sei wichtig, zuzuhören und gemeinsam Lösungen zu finden, besonders mit einem Fokus auf Themen die das tägliche Leben der Wählerinnen und Wähler betreffen. Außerdem betonte Martin auch, wie wichtig es sei den Zugang zu Bildung zu verbessern, dafür zu sorgen dass Bildungssysteme besser und nachhaltiger funktionieren und besonders auch Familien mit weniger ausgeprägtem Bildungshintergrund oder Ressourcen zur Verfügung stehen.

Sozial, Grün und Glücklich

Beide Diskussionsteilnehmer zeichneten eine politische Vision, die soziale, grüne und politische Fragen kombiniert. Cohen und Martin diskutierten, dass politische Kampagnen und Strategien Menschen mitnehmen sollten, und dass gute Jobs mit starker sozialer Absicherung als Teil der Reform hin zu einer grüneren Wirtschaft sichergestellt werden müssen. 

Cohen sprach sich außerdem für Zufriedenheit und Freude aus. Freude und Zufriedenheit sollten Teil und Ziel von politischer Arbeit sein. Bei vielen der Themen geht es letztendlich darum, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern. Von besserer Gesundheitsversorgung über Kinderbetreuung bis hin zum Leben in einer sauberen Umwelt sollten sich progressive AkteurInnen dafür einsetzen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.  Ein grundlegendes strategisches Ziel Cohens ist es, dass 10% der Bevölkerung eine Stunde pro Woche mit politischem Engagement zu diesen Themen in ihrer Umgebung verbringen. Dieses Engagement bringt Freude, und kann politische Kräfte aufbauen, die eine Politik des Wohlbefindens und der Zufriedenheit einleiten. 

“Das Ziel ist es, glücklicher zu sein, darüber sagen wir explizit. Politische Arbeit macht keinen Sinn, wenn man am Ende des Tages nicht glücklicher ist” – Larry Cohen


Am Dienstag, den 13. Oktober 2020 war Das Progressive Zentrum Gastgeber der digitalen Veranstaltung “Winning Progressive Majorities When it Matters Most: A Transatlantic Dialogue on Strategy and Campaigns”. Ziel der vom Programmbereich Internationaler Dialog organisierten Veranstaltung war, einen aussagekräftigen Dialog darüber zu entfachen, wie progressive Akteure angesichts der Corona-Pandemie, der Klimakrise, dem Aufstieg des Rechtsextremismus und den sich abzeichnenden wirtschaftlichen Herausforderungen Wahlen gewinnen können. Dieser Dialog stand im Kontext der Präsidentschaftswahlen in den USA in 2020 und den deutschen Bundestagswahlen in 2021.


Autor:innen

Diego war Projektmanager und koordinierte vor allem den jährlichen Progressive Governance Summit sowie den transatlantischen Dialog New Urban Progress. Diego ist derzeit auch der Get-Out-the-Vote-Coordinator für Europa, den Nahen Osten und Afrika für Democrats Abroad.
Clara ist seit Oktober Praktikantin bei Das Progressive Zentrum im Bereich Internationaler Dialog und wirkt dazu am European Hub for Civic Engagement mit. Sie studierte Wirtschaft, Politik und Fremdsprachen an der Universität Passau mit einem Auslandssemester an der Universität Leiden.

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