Präsidentschaftswahlen in Polen: “Die polnische Gesellschaft ist zunehmend irritiert”

Ein Gespräch mit Maria Skóra über die abgesagte Wahl, politische Machtverhältnisse und den Zustand der Opposition

Am 10. Mai sollten in Polen die Präsidentschaftswahlen abgehalten werden. Die regierende PiS-Partei war entschlossen, die Abstimmung trotz des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie durchzuführen. In letzter Minute sah sie sich jedoch gezwungen, die Wahl abzusagen, da der politische Druck zu groß geworden war. Der Zustand der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in dem Land wird bereits seit einiger Zeit kritisiert. Im Interview erklärt Maria Skóra, Leiterin des Programmbereichs Internationaler Dialog des Progressiven Zentrums, wie die Regierung die aktuelle Gesundheitskrise zu ihrem Vorteil nutzt – und wie dies die Demokratie untergräbt.

Anfang März gab es den ersten Corona-Fall in Polen. Wie hat die Regierung der konservativen PiS-Partei (zu dt.: “Recht und Gerechtigkeit”) auf die Pandemie insgesamt reagiert?

Als das Gesundheitsrisiko auftauchte, handelten die Behörden sofort. Schulen, öffentliche Einrichtungen und Restaurants wurden für einige Wochen geschlossen. Erst seit kurzem sind Einkaufszentren wieder geöffnet und auch Vorschuleinrichtungen könnten bald wieder öffnen. Dennoch werden die Grenzen weiterhin überwacht und es besteht eine obligatorische 14-tägige Quarantäne für alle Einreisenden aus dem Ausland.

Nach Jahren der Vernachlässigung und des finanziellen Zusammenbruchs ist aber vor allem das öffentliche Gesundheitssystem anfällig. ÄrztInnen und medizinisches Personal arbeiten ohne ausreichende Sicherheitsausrüstung und es fehlen entsprechende Tests. Aufgrund von Kontaminierung mussten zudem einige Krankenhäuser geschlossen werden. Doch die von der Regierung kontrollierten öffentlichen Fernsehsender strahlten die Reden von Regierungsmitgliedern aus, schlugen die Reaktion der EU auf das Coronavirus nieder und beanspruchten den Ruhm für die erfolgreiche Eindämmung der Epidemie. 

Das hört sich kaum nach einem demokratischen Wettbewerb an. Was bedeuten die Maßnahmen für die Demokratie in Polen?

Polen stand, und steht immer noch, vor den Präsidentschaftswahlen. Der eingeführte „Seuchenzustand“ bedeutet allerdings Einschränkungen im öffentlichen Leben und praktisch das Ende des aktiven Wahlkampfes. Während andere Präsidentschaftskandidaten die Distanzierungsregeln einhielten und ihren Wahlkampf auf Eis legten, reiste der amtierende Präsident, Andrzej Duda, weiter durchs Land und absolvierte öffentliche Auftritte. Die Opposition wirft ihm vor, einen unfairen Wahlkampf zu führen und bezeichnet ihn als den „Corona-Kandidaten“. Duda erwidert, dass er seine Pflicht als Präsident erfülle.

Im Februar war seine Wiederwahl noch überhaupt nicht gesichert. Heute nähert sich Duda laut Umfragen einem Sieg in der ersten Runde. Trotz der sich verschärfenden gesundheitlichen Lage hielt die Regierung lange am 10. Mai als geplanten Wahltag fest; die Wahl wurde erst drei Tage vor dem geplanten Wahltag, abgesagt. Und das, obwohl sich RechtsexpertInnen skeptisch geäußert hatten, ob die Wahl während einer quasi-Ausgangssperre abgehalten werden dürfe und medizinische Behörden eindringlich angesichts der ohnehin schon schlimmen Situation gewarnt hatten.

War ein fairer Wettbewerb in der aktuellen Situation überhaupt möglich?

Der Wahlkampf begann Anfang 2020 und war vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie ein ausgewogener politischer Wettbewerb. Mitte März änderte sich alles: Wahlkampfaktivitäten mit persönlichen Treffen und großen Versammlungen wurden größtenteils eingestellt und die Kandidaten wechselten zu traditionellen Medien (Pressekonferenzen, Talkshows, Interviews) und zum Internet (soziale Medienkanäle und andere Formen der digitalen Begegnung). Im Laufe der Zeit stellte sich jedoch eine andere, weitaus wichtigere Frage: Ist eine direkte Abstimmung am 10. Mai, mitten in einer Epidemie, überhaupt möglich?

Was ist Deine Einschätzung? Kann eine freie und rechtmäßige Wahl unter diesen Umständen überhaupt durchgeführt werden? Und was hat die Regierung schließlich dazu veranlasst, die Wahl abzusagen?

Theoretisch ist eine allgemeine persönliche Abstimmung während einer Pandemie möglich – wenn alle Vorkehrungen getroffen werden. Dies war beispielsweise in Südkorea der Fall. Allerdings stellt eine solche Wahl eine große Gefahr für die öffentliche Gesundheit dar, was bei den demokratischen Vorwahlen im US-Bundesstaat Wisconsin deutlich wurde. Die Durchführung einer Wahl birgt technische Hürden und große Probleme: zu wenig Wahllokale und deren personelle Besetzung oder der Entzug des aktiven Wahlrechts von Menschen in Quarantäne und infizierten Personen. 

Mögliche Alternativen wurden im polnischen Parlament heftig debattiert. Eine Verschiebung der Abstimmung auf eine späteren Zeitpunkt wurde von der Regierungskoalition abgelehnt, da sie die Chancen des amtierenden Präsidenten Andrzej Duda bei einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage gefährden würde. Dann wurde eine Verlängerung der Amtszeit des amtierenden Präsidenten bis 2022 ohne die Möglichkeit einer Wiederwahl vorgeschlagen, doch eine solche Lösung erscheint verfassungswidrig.

Wie stellte sich die Regierung denn ein Wahl unter diesen Voraussetzungen vor?

Zuletzt wurde im Parlament ein Gesetzentwurf zur ausschließlichen Briefwahl behandelt. Auch hier gab es wieder technische und rechtliche Hürden: Wie verteilt und sammelt man die Stimmzettel? Wie organisiert man die Wahllokale für die PolInnen im Ausland? Wie stellt man sicher, dass die Abstimmung geheim, direkt, allgemein und fair ist, um die Legitimität der Wahl zu sichern? Letztendlich gab es wenige Tage vor der Wahl keinen formellen, rechtsverbindlichen Beschluss darüber, in welcher Form die Wahl durchgeführt werden soll. 

Am Ende ist die polnische Gesellschaft zunehmend irritiert. Laut Umfragen wollten nur noch zwölf Prozent, dass die Wahl im Mai abgehalten wird. Viele Stimmen – ExpertInnen, Abgeordnete, MeinungsführerInnen – hatten sich öffentlich dagegen ausgesprochen. Nach langen Überlegungen und verzweifelten Versuchen, die Abstimmung am 10. Mai abzuhalten, wurde schließlich beschlossen, sie zu verschieben, höchstwahrscheinlich auf Juli diesen Jahres.

Die Wahrheit ist jedoch, dass diese Entscheidung das Ergebnis interner Verhandlungen innerhalb der regierenden Koalition der Vereinigten Rechten war und nicht auf der Wahrung demokratische Standards und der öffentlichen Gesundheit basierte. Die PiS-Partei wurde von ihrem Junior-Koalitionspartner festgenagelt, der ihr die absolute Mehrheit im Parlament gewährt. Traurig, aber wahr: Das Schicksal der polnischen Präsidentschaftswahlen wurde letztlich von politischen Kompromissen diktiert und nicht im Einklang mit dem nationalen Interesse oder der öffentlichen Sicherheit entschieden.

Schon seit längerem wird der polnische Rechtsstaat ausgehöhlt. Welche Rolle spielt diesbezüglich das Präsidialamt?

Seit der Machtübernahme der PiS-Partei mit ihren beiden Junior-Koalitionspartnern im Jahr 2015 sah sich Polen mehrfach mit der Europäischen Union und anderen internationalen Akteuren konfrontiert. Auch die Venedig-Kommission und der US-Senat brachten ihre Besorgnis über die Entwicklungen im Land zum Ausdruck. Das neue Mediengesetz und die Politisierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die Umgestaltung des Justizsystems des Landes sowie persönliche Veränderungen im Verfassungsgericht und erst kürzlich im Obersten Gerichtshof wurden als systemisches Risiko für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wahrgenommen. 

Daher ist die regierende national-konservative Koalition umso entschlossener, das Präsidentenamt zu behalten, das im politischen System Polens ein wesentlicher Bestandteil der Gewaltenteilung ist. Sein Verlust würde das Ende der PiS-Hegemonie im Land bedeuten. Je später die Abstimmung stattfindet, desto geringer sind die Chancen von Andrzej Duda, wiedergewählt zu werden.

Wie verhält sich die Opposition? Schafft sie es, der Regierung etwas entgegenzusetzen?

Die Opposition ist zersplittert, doch die jüngste Parlamentsabstimmung im Oktober 2019 hat bewiesen, dass sie nicht aufgibt: Es ist ihr gelungen, den Senat, die obere Kammer des polnischen Parlaments, zurückzuerobern. Das kann die PiS-Partei zwar nicht erschüttern, aber die von der Regierung vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren definitiv verlangsamen. Alle großen politischen Parteifamilien in Polen scheinen müde geworden zu sein: Die Koalition der Vereinigten Rechten unter Führung der PiS-Partei hat sich gerade als sehr verwundbar und innerlich zerrissen erwiesen; den gegnerischen Liberalen mangelt es an Schwung und Charisma; die Linke hat frische Ideen und frische Gesichter, aber sie scheint die gläserne Decke der Unterstützung von mehr als 15 Prozent nicht durchbrechen zu können.

Diese Müdigkeit, aber auch Hoffnung und Aufregung, sind von besonderer Bedeutung für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen, also den verschärften politischen Wettbewerb und die verstärkte Mobilisierung in allen politischen Lagern, die sich auf die Wahl vorbereiten: entweder um sie zu verhindern oder um jeden Preis durchzuführen. Es ist sogar möglich, dass aus dem heutigen Wahlchaos neue politische Formationen und neue Gesichter entstehen.


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    Autor:innen

    Dr. Maria Skóra

    Policy Fellow
    Maria Skóra ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik und Policy Fellow beim Progressiven Zentrum. Zuvor war sie Leiterin des Programmbereichs Internationaler Dialog des Progressiven Zentrums.
    Moritz Hergl war bis 2021 Assistent in der Kommunikationsabteilung des Progressiven Zentrums. Zuvor absolvierte er dort sein Praktikum. Er studierte European Studies an der Universität Maastricht, wo er sich interdisziplinär mit Fragen zu Gesellschaft, Recht und Wirtschaft in Europa beschäftigte.

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