EU-Ratspräsidentschaft: Was die Deutschen abseits von Corona erwarten

Videokonferenz zur Studienvorstellung “Selbstverständlich europäisch?! 2020”

Knapp 100 Tage vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft stellten die Heinrich-Böll-Stiftung und das Progressive Zentrum eine Studie zu den Erwartungen der Bevölkerung an die deutsche Ratspräsidentschaft und das europäische Selbstbild der Deutschen vor. Der Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt Michael Roth und die grüne Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner machten sich für europäische Solidarität in Krisenzeiten stark, bewerteten den gegenwärtigen Stand dieser jedoch unterschiedlich.

Am 1. Juli übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Voraussichtlich im Juni wird die Bundesregierung dazu ihr politisches Programm vorstellen. Um eine informierte Debatte über die politischen Prioritäten führen zu können, haben die Heinrich-Böll-Stiftung und das Progressive Zentrum die Einschätzungen der Bevölkerung repräsentativ abgefragt.

„Wir können mit diesen Daten zeigen, was den Deutschen abseits der Bewältigung der Corona-Pandemie wichtig ist. Denn die anderen Herausforderungen stehen nicht still, zum Teil verschärfen sie sich durch die Pandemie noch“, begründete Ko-Autor Johannes Hillje den besonderen Mehrwert der Erhebung, die vor Ausbruch der Pandemie durchgeführt wurde.

Der Policy Fellow des Progressiven Zentrums präsentierte die Ergebnisse der Studie „Selbstverständlich europäisch?! 2020“ gemeinsam mit Ko-Autorin Christine Pütz von der Heinrich-Böll-Stiftung vor etwa 100 TeilnehmerInnen einer Videokonferenz. Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, und Franziska Brantner, Fraktionssprecherin für Europa von Bündnis 90/Die Grünen, sowie Thomas Westphal, Abteilungsleiter Europapolitik des Bundesfinanzministeriums, kommentierten die Erkenntnisse.

Die Videokonferenz anschauen

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Die wichtigsten Ergebnisse der repräsentativen Umfrage

Johannes Hillje und Christine Pütz stellten fünf Kernergebnisse vor:

EU-Zustimmung auf Normalniveau gesunken

Die EU-Zustimmung sei nach der Euphorie zu den Europawahlen 2019 wieder auf Normalniveau gesunken: 67,3 Prozent der Deutschen sähen 2020 mehr Vor- als Nachteile in der EU-Mitgliedschaft, 2019 waren es noch knapp 75 Prozent. 50,9 Prozent hielten Deutschlands finanziellen Beitrag für angemessen oder zu niedrig (2019: 60 %), 46,7 Prozent für zu hoch.

Befragte wünschen sich kooperative deutsche Europapolitik

Eine klare Mehrheit von jeweils über 70 Prozent der Deutschen wünsche sich ein aktives und kooperatives Auftreten Deutschlands in der EU.

Klima- und Umweltschutz ist Top-Thema der Befragten

Für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wünschten sich die BürgerInnen, dass die Bundesregierung vor allem bei den Themen Klima- und Umweltschutz (41,3 %), Migration und Asyl (38,6 %) sowie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (30,1 %) Fortschritte erziele. Mit Blick auf konkrete politische Vorhaben liege die Einführung der EU-Digitalsteuer vorne (39 %), gefolgt von der Erhöhung des EU-Klimaziels 2030 (33,2 %) und der Schaffung einer EU-Armee (27,1 %).

Knappe Mehrheit findet deutschen EU-Beitrag nicht zu hoch

Eine knappe Mehrheit von 50,9 Prozent halte den finanziellen Beitrag Deutschlands zum EU-Budget nicht für zu hoch. 46,7 Prozent meinten das Gegenteil.

Ausgaben in bestimmten Politikfeldern sollen erhöht werden

95,5 Prozent der Deutschen befürworteten mehr gemeinsame Ausgaben von Deutschland und den EU-Partnern in bestimmten Politikfeldern. Oben auf der Agenda der BürgerInnen stünden die Bereiche Innovationen und Forschung (43,8 %), Klima- und Umweltschutz (40,5 %) sowie soziale Absicherung (34,4 %).

Vergleiche man die Vorstellungen der BürgerInnen über die Rolle Deutschlands in der EU mit der aktuellen Regierungspolitik, so ergeben sich laut den beiden AutorInnen drei Schlussfolgerungen:

Die Bundesregierung solle den Erwartungen der BürgerInnen und der EU-Partnerländer gerecht werden. Die Ratspräsidentschaft böte für sie die Chance, den im Koalitionsvertrag versprochenen „Aufbruch für Europa“ anzugehen. Deutschland solle in den sechs Monaten auch vor schwierigen Themen wie der Asylpolitik oder Rechtsstaatlichkeit nicht zurückschrecken.

Das EU-Budget benötige eine gemeinsame Vision: Die Umfrage habe gezeigt, dass sich die Deutschen nicht als „Zahlmeister Europas“ fühlen. Anstatt in der Debatte um den mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) allein über abstrakte Zahlen zu sprechen, sollte die MFR-Debatte vielmehr von den politischen Zielen hergeführt werden. „Zahlen lassen Menschen nie in Begeisterungsstürme ausbrechen – egal ob auf nationaler oder europäischer Ebene. Für konkrete Visionen können sich Menschen hingegen sehr wohl begeistern“, betonte Christine Pütz während der Diskussion.

Bei der sozial-ökologischen Transformation solle sich Deutschland mehr einbringen. Dies sei zum Zeitpunkt der Erhebung das Top-Thema der BürgerInnen gewesen. Die EU-Klimawende müsse finanziell besser ausgestattet werden, allen voran der „Just Transition Fonds“, der unter anderem auch deutsche Kohleregionen unterstützt.

Hohe Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft

Staatsminister Michael Roth erkannte während der Debatte an, dass die Erwartungshaltung an die deutsche Ratspräsidentschaft immens sei. Er wies jedoch darauf hin, dass in besonders umstrittenen Politikfeldern noch kein gemeinsames Verständnis zwischen den nationalen Regierungen für das richtige Vorgehen erreicht worden sei.

Exemplarisch dafür sei der ausbleibende Durchbruch für eine solidarische Asyl- und Migrationspolitik. Vor dieser Herausforderung würde die Regierung jedoch nicht zurückschrecken: „Die deutsche Ratspräsidentschaft wird unseren Partnern einiges zumuten“, so der Staatsminister, man müsse sich jedoch über eines bewusst sein: „Vieles, was in unseren Kreisen als selbstverständlich abgehakt wird, ist in der EU hoch kontrovers.”

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Der Coronavirus stellt die europäische Solidarität auf die Probe

Auch die Corona-Pandemie stelle die europäische Solidarität auf die Probe. Sowohl Michael Roth als auch Thomas Westphal betonten eine Reihe von Schritten, die die Bundesregierung derzeit anginge, um eine europaweite Koordinierung der Maßnahmen gegen das Coronavirus zu ermöglichen.

Dazu äußerte sich der Staatsminister selbstbewusst: „Wir haben gezeigt, dass parlamentarische Demokratien in schwersten Krisenzeiten handlungsfähig sind, weitreichende Beschlüsse treffen können, ohne dass sie autoritäre Regime oder Diktatoren kopieren müssen.“

Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung bewertete Franziska Brantner hingegen mit Blick auf die europäische Dimension der Krise als unzureichend: „Ich hoffe und appelliere, dass sich auch Deutschland solidarisch zeigt. Es ist in unserem ureigenen Interesse hier gemeinsam zu helfen.” Bislang sei die Antwort auf Corona zu nationalstaatlich ausgefallen. „Wenn es eines gibt, was wir aus der Wirtschaftskrise 2008/09 gelernt haben, dann doch, dass es handelnde europäische Solidarität braucht“, so die Bundestagsabgeordnete.

Staatsminister Michael Roth versicherte, dass die Bundesregierung nicht beabsichtige, die anderen Mitgliedstaaten im Stich zu lassen, im Gegenteil: „Wir können kein Land dafür bestrafen, dass es andere wirtschaftliche und soziale Verhältnisse hat als wir in Deutschland. Corona trifft jeden. […] Wir sollten uns vielmehr vorurteilsfrei und un-ideologisch diesen Themen widmen.“

Um die deutsche Ratspräsidentschaft zum Erfolg zu führen, habe man viel Zeit in die Vorbereitung der Trio-Ratspräsidentschaft gesteckt. „Wir haben unsere Themen mit Portugal und Slowenien abgestimmt“, erklärte Michael Roth.

Studienautor Johannes Hillje ermunterte die Bundesregierung, die seltene Gelegenheit einer Ratspräsidentschaft zu nutzen und den Erwartungen der Deutschen und Europäern gerecht zu werden: „Die Handlungsfähigkeit von Europa hat viel mit dem Handlungswillen von Deutschland zu tun. Wenn Deutschland bereit ist voranzugehen, dann ist es auch in der Lage andere Länder mitzuziehen.“

Über die Studie “Selbstverständlich europäisch?! 2020”

Die Studie „Selbstverständlich europäisch?!“ ist eine jährliche Erhebung zum Selbstverständnis der Deutschen in der EU, die in diesem Jahr um Fragen zur Ratspräsidentschaft ergänzt wurde. Herausgeber ist die Heinrich-Böll-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Progressiven Zentrum.

Neben den TeilnehmerInnen der Videokonferenz wurden die Ergebnisse der Studie auch in diversen Medien diskutiert. So berichtete Der Spiegel von einem “stabilen Grundvertrauen”, das die Deutschen der EU gegenüber brächten. Das Handelsblatt fokussierte sich auf die Zustimmung der Deutschen zu erhöhten EU-Ausgaben in konkreten Politikfeldern. 

Die Vorgängerstudie erschien 2019 mit dem Titel “Vom Zahlmeister zum Zukunftsmeister” und erfasste erstmals das Selbstbild der Deutschen in der Europäischen Union.

Autor:innen

Johannes Hillje ist Politik- und Kommunikationsberater in Berlin und Brüssel. Er berät Institutionen, Parteien, Politiker, Unternehmen und NGOs. Zur Europawahl 2014 arbeitete er als Wahlkampfmanager der Europäischen Grünen Partei.

Dr. Christine Pütz

Heinrich-Böll-Stiftung
Dr. Christine Pütz ist Referentin für Europäische Union im Referat EU/Nordamerika der Heinrich-Böll-Stiftung. Bis 2007 arbeitete sie an Forschungs- und Bildungseinrichtungen wie dem Centre Marc Bloch (Berlin), dem Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung und dem CEVIPOF in Paris.

Vincent Venus

Leiter der Kommunikation
Vincent Venus war Leiter der Kommunikation des Progressiven Zentrums und somit verantwortlich für die Kommunikationskanäle, die Redaktion und Gremienkoordination.

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