Staatsgewalt mit Grenzen

Es wird Zeit für eine europäische Kooperation, die ihren Namen tatsächlich verdient hat.

Die Corona-Krise hat deutlich gemacht, dass nationale Alleingänge nicht zukunftsfähig sind. Wir brauchen mehr denn je eine vertiefte Zusammenarbeit auf EU-Ebene.

Globale Herausforderungen bedürfen globaler Antworten. Das wird von politischen EntscheidungsträgerInnen regelmäßig betont. Doch es sind dieselben, die sich genau dann, wenn es darauf ankommt, anti-solidarisch und unkooperativ in Europa verhalten. In der Corona-Krise hat sich schmerzhaft herausgestellt, dass europäische Solidarität in den meisten Fällen nichts als eine Floskel ist und dass die EU weder die notwendigen Kompetenzen zur Krisenbewältigung besitzt, noch die EU-Mitgliedsstaaten bereit sind, konstruktiv zusammenzuarbeiten.

Grenzschließungen, Armee-Mobilisierung und Exportverbote statt solidarischen Handelns

Alle EU-Mitgliedstaaten außer Irland haben im Zuge der Corona-Krise ihre Grenzen geschlossen, als könne ein Virus an Grenzen Halt machen — darunter auch die EU-freundlichen Länder des BeNeLux und Skandinaviens. In zahlreichen europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, wurde die Armee mobilisiert — als könnte man den „unsichtbaren Feind“ mit Panzern und Raketen bekämpfen. Deutschland und Tschechien haben zu Beginn der Pandemie ein Exportverbot für Masken und medizinisches Material erlassen, sodass China unserem Nachbarn Italien unter die Arme greifen musste. Der Virus wurde außerdem als „externe Bedrohung“ dargestellt, was zu diskriminierenden und ausländerfeindlichen Verhalten in der Bevölkerung geführt hat, sogar zwischen den eng kooperierenden Ländern Frankreich und Deutschland. 

Darüber hinaus haben sich die europäischen Staaten in der Krisensituation nur sehr zögerlich koordiniert. Weder die eingeführten Maßnahmen noch die „Exit-Strategie“ wurden auf EU-Ebene abgesprochen. Man bevorzugte stattdessen nationale Alleingänge. Die Tatsache, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs Anfang April die EU-Kommission nach Vorschlägen zur Koordinierung der Lockerungen baten, sich dann aber jeweils zum Alleingang entschlossen, ist ein trauriges Beispiel misslungener europäischer Kooperation. Dasselbe gilt nun für die Entwicklung der verschiedenen nationalen „Corona-Apps“: Vereinbarkeitsprüfungen oder eine EU-weite Koordinierung der Entwicklung blieben aus. So können Deutsche, die im europäischen Ausland wohnen, die Corona-Warn-App nicht nutzen; und ebenso unklar ist, wie eine Nachverfolgung von Infektionen funktionieren kann, wenn deutsche TouristInnen diesen Sommer in den Süden fahren. 

Auch wirtschaftlich werden die Grenzen der nationalen Antworten immer deutlicher. Zwar gibt es hier ein Positivbeispiel mit dem europäischen „NextGenerationEU“-Plan, der auf einer deutsch-französischen Initiative beruht. Doch die „sparsamen Vier“ (Niederlande, Österreich, Dänemark, Schweden) weigern sich bisher, solidarisch zu handeln. Warum sollte man Milliarden an Schulden aufnehmen, wenn man doch selbst ganz gut durch die Krise gekommen ist? Diese Kurzsichtigkeit könnte für die EU fatal sein, denn ein geschwächtes Europa bedeutet Macht- und Souveränitätsverlust und weniger Schutz der Interessen der Bürger*innen.

Nicht nur im europäischen, sondern auch im langfristigen nationalen Interesse sollten deshalb  Alleingänge tunlichst vermieden werden — auch wenn es kurzfristig politisch von Vorteil scheint.  

Zwar gab es Rufe nach „mehr europäischer Solidarität“ und nach mehr internationaler Zusammenarbeit. Doch es fehlen größtenteils noch die Strukturen und Kompetenzen auf EU-Ebene, eine solche Solidarität auch umzusetzen. Ein intensiverer Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen europäischen EntscheidungsträgerInnen wäre wünschenswert. Darüber hinaus würde eine kontinuierliche Forschungszusammenarbeit zur Bekämpfung des Virus und zur Entwicklung eines Impfstoffs beitragen. Mit einer gemeinsamen europäischen Gesundheitsstrategie könnte darüber hinaus die Souveränität der EU gewährleistet werden, um gefährliche wirtschaftliche Abhängigkeiten in Krisensituation zu vermeiden. Es bedarf mehr als eines wirtschaftlichen Wiederaufbaus auf EU-Ebene, um die derzeitige Pandemie erfolgreich zu meistern und gegen künftige gewappnet zu sein.


Der Blog
Corona & Society: Nachdenken über die Krise
Was können Gesellschaft und Politik programmatisch-konzeptionell aus der Krise lernen?


Corona sollte die EU-Integration beschleunigen

Deshalb sollte die Corona-Krise die EU-Integration beschleunigen. Nur ein System in der Größe der EU kann erfolgreich auf globale Herausforderungen antworten. Gleichzeitig ringt die EU weiterhin mit ihrem Demokratiedefizit. Die Herausforderungen werden in Zukunft mit Sicherheit nicht kleiner. Deshalb ist jedes „Zurück zum Nationalstaat“ ebenso kurzsichtig wie fatal. Stattdessen sollte eine Doppelstrategie vorangetrieben werden: Das europäische Projekt muss zügig intensiviert und ausgebaut werden, um eine erfolgreiche Koordination der Mitgliedsstaaten in Krisensituationen zu ermöglichen. Dabei ist aber von größter Bedeutung, dass potenzielle Kompetenzübertragungen mit vertiefter demokratischer Kontrolle einhergehen.  Dafür sind nicht zuletzt die Staats- und Regierungschefs verantwortlich. Der „NextGenerationEU“-Aufbauplan und das nächste EU-Budget sollten an strenge Auflagen gebunden werden, um Rechtsstaatlichkeit und europäische Werte sicherzustellen. Darüber hinaus muss die EU stärker als politischer Akteur in der Bevölkerung wahrgenommen und akzeptiert werden. Dabei sollten politische Bildung und Maßnahmen für eine europäische Öffentlichkeit stärker als bisher gefördert werden.

Europäische Kooperation kann nicht in einem demokratie- und wertfreien Raum existieren, wie es noch allzu häufig der Fall ist.

Corona ist mit Sicherheit nicht die letzte globale Herausforderung, vor der wir stehen. Mit der Klimakrise zeichnen sich möglicherweise noch schlimmere Zeiten ab. Die vor uns stehenden Aufgaben erfordern deshalb vor allem eins: dass nationale EntscheidungsträgerInnen eine Umgestaltung der politischen Machtverhältnisse und der Funktionsweise unserer Staaten ermöglichen, und zwar im Interesse des Schutzes der BürgerInnen. Statt sich eine Rückkehr zum status quo ante zu wünschen, den es nicht mehr geben wird, wäre es an der Zeit, endlich den Mut für die dringend notwendigen politischen Veränderungen aufzubringen. Es wird Zeit für eine europäische Kooperation, die ihren Namen tatsächlich verdient hat.

Autorin

Sophie Pornschlegel ist Policy Fellow am Progressiven Zentrum und arbeitet derzeit als Senior Policy Analyst am European Policy Centre (EPC) sowie als Projektleiterin für Connecting Europe, eine gemeinsame Initiative des EPC mit der Stiftung Mercator.

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