Ist die Freiheit noch links?

Ein Interview mit Michael Bröning über sein Buch „Vom Ende der Freiheit“

In seinem jüngst erschienen Buch “Vom Ende der Freiheit – Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird” attestiert Michael Bröning, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York, Teilen der Linken antifreiheitliche und antidemokratische Tendenzen. Dabei sei es höchste Zeit, die Freiheit als Kern des demokratischen Versprechens wiederzuentdecken. Wir sprachen mit ihm über Identitätspolitik, die Klimakrise und einen zeitgemäßen linken Freiheitsbegriff.


Herr Bröning, in ihrem Buch schreiben Sie, das Konzept der Freiheit sei ideologisch nach rechts außen gewandert. Progressive Kräfte würden sich zwar für Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Fortschritt stark machen, aber kaum für die Freiheit. Trifft diese Diagnose aus Ihrer Sicht auch auf die mögliche Ampel-Koalition zu? Immerhin trägt die FDP die Freiheit im Namen, im letzten Satz des Wahlprogramm der Grünen heißt es “Wahlen sind ein Moment der Freiheit. Nutzen Sie ihn – für die Freiheit.”

Michael Bröning: Stimmt, das Wahlprogramm der Grünen endet mit einem Rückgriff auf die Freiheit. Das aber ist doch eher ein Kontrapunkt zum sonstigen Programm. Eine aktuelle Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Bundestagswahlkampf belegt, wie stark Freiheit aus der Mode gekommen ist und zwar insbesondere in fortschrittlichen Kreisen. Nur für die AfD hat der Begriff im Wahlkampf wirklich eine größere Rolle gespielt.

Ausgangspunkt meines Essays zur Freiheit ist deshalb die Beobachtung, dass der Wert der Freiheit zunehmend exklusiv von Rechtsaußen besetzt wird und zwar nicht nur in Deutschland. In Österreich durch die Freiheitlichen, in den Niederlanden durch die Partei für die Freiheit und etwa in den USA durch den Freedom Caucus. Meine Sorge ist, dass ein für die Demokratie entscheidendes Ideal zunehmend von links aufgegeben wird. Denn nicht zuletzt bezogen auf die Grünen ist ja zu fragen, was der Freiheitsbegriff des Wahlprogramms zum Beispiel noch mit Freiheit von Fremdbestimmung und staatlicher Übergriffigkeit zu tun hat. Die mögliche Ampel-Koalition wäre deshalb eine gute Gelegenheit, den Freiheitsbegriff neu zu entdecken und auch aus einer linken Perspektive zu reaktivieren.

Und wie könnte aus Ihrer Perspektive ein zeitgemäßer linker Freiheitsbegriff aussehen?

Ein zeitgemäßer linker Freiheitsbegriff stellt die Balance zwischen negativer und positiver Freiheit wieder her. Nicht zuletzt der große britische Freiheitsphilosoph Isaiah Berlin definiert diese Balance als Kern eines belastbaren Freiheitsbegriffs. Es ist ja legitim, dass gerade progressive Kräfte vor allem auf die positive Freiheit – also die Freiheit zu – setzen. Ein progressiver Freiheitsbegriff bleibt nicht bei der Auffassung stehen, dass Freiheit voraussetzungslos ist, sondern versteht, dass Freiheit gesellschaftlich gestaltet werden muss. Progressive Freiheit braucht einen aktiven Staat, der für Gleichberechtigung und faire Chancen sorgt.

In Zeiten, in denen die Freiheit weltweit angefeindet wird, sollten sich gerade fortschrittliche Kräfte zu diesem Wert bekennen, anstatt ihn zu einem rechten Fiebertraum zu erklären.

Aber zu einem progressiven Freiheitsbegriff gehört eben auch der Aspekt der negativen Freiheit – die Freiheit von. Auch linke Kräfte haben sich historisch gegen Fremdbestimmung stark gemacht und für persönliche Autonomie und Verantwortung. Karl Marx wollte das Reich der Freiheit und die Überwindung von Unterschieden, nicht deren Festschreibung und Überhöhung. Zur Ausgestaltung eines zeitgemäßen progressiven Freiheitsbegriffes ist es deshalb höchste Zeit, auch Aspekte der negativen Freiheit als Domäne einer linken Tradition wiederzuentdecken. „Freiheit ist Freiheit“ sagt dazu Isaiah Berlin. In Zeiten, in denen die Freiheit weltweit angefeindet wird, sollten sich gerade fortschrittliche Kräfte zu diesem Wert bekennen, anstatt ihn zu einem rechten Fiebertraum zu erklären.

Sie attestieren Teilen der Linken freiheitsfeindliche Tendenzen. Könnten Sie das ausführen: Worin bestehen diese Tendenzen?

In einer Abwertung und einer Umwertung des Begriffs. Aber zunächst würde ich eine Vorbemerkung vorausschicken, um nicht missverstanden zu werden. Natürlich stellt das Untergraben von Freiheit keine linke Eigenheit dar. Freiheit wird auch von Rechts infrage gestellt und zwar massiv. Es gibt keine Freiheit in national befreiten Zonen. Nur: Die Gefahr von Rechts wird gesellschaftlich zurecht regelmäßig thematisiert – im Gegensatz zur weniger offensichtlichen Bedrohung in Teilen der Linken. Doch die unbequeme Wahrheit lautet: Auch im progressiven Milieu westlicher Gesellschaften sind mittlerweile deutlich freiheitsfeindliche Tendenzen sichtbar.

Können Sie dafür Beispiele nennen?

Ein offensichtliches Beispiel ist die Pandemiepolitik. Hier erleben wir seit fast 20 Monaten ein historisch einzigartiges Unterordnen der Freiheit unter den Wert der Sicherheit. Ich sage nicht, dass das nicht punktuell legitim sein kann. Nur sollte man sich darüber klar sein, dass die massive Einschränkung von Freiheitsrechten erstens zeitlich begrenzt bleiben muss und sich zweitens unter permanentem Rechtfertigungsdruck befinden sollte. Nicht die Forderung nach Aufhebung von Freiheitseinschränkungen muss sich rechtfertigen, sondern die Einschränkung von Freiheit. Bis jetzt habe ich leider nicht den Eindruck, dass von progressiver Seite besondere Vorbehalte gegenüber den Ausnahmezuständen artikuliert wird. Dort betrachteten gerade linke Vordenker Covid doch eher als Gelegenheit des gesellschaftlichen Umbaus.

Die Realität vor der Pandemie soll überwunden und durch eine durch die Krise geläuterte Welt ersetzt werden. Weniger kapitalistisch soll es künftig zugehen, weniger materialistisch, und natürlich nachhaltiger. Noch einmal: Auch das ist legitim. Wir wären schlecht beraten, nun auf Teufel komm raus zum Status Quo Ante zurückzukehren. Doch mein Eindruck ist: Die Aufgabe von Freiheit erscheint manch einem gerade in der Linken mittlerweile als ein Preis, der eben gezahlt werden muss, um Fortschritt zu erzielen. Das halte ich für bedenklich.

Von Rechts wurde hingegen die Gefahr immer wieder geleugnet.

In Deutschland ja – und in der ersten Phase auch von Trump in den USA. Aber weltweit ist das Bild nicht so einheitlich. Auch die Rechte hat auf Covid reagiert. Und zwar ebenfalls mit einzigartigen Einschränkungen von Freiheit. In westlichen Demokratien aber war der Blick vor allem auf die USA gerichtet, wo Trump am Mount Rushmore theatralisch seine Maske vom Gesicht zog und die Gefahr des Virus leugnete. Vieles hatte in der Folge dann mit politischen Reflexen zu tun. Teile des Juste Milieus scheinen bis heute fest entschlossen, sich in Bezug auf Covid möglichst fundamental vom politischen Gegner rechts abzuheben. Ich finde es aber schon bemerkenswert, dass ein gesellschaftliches Milieu, das bis vor kurzem noch etwa das Vorzeigen von Reisedokumenten an Staatsgrenzen mehr oder weniger für eine Zumutung hielt, nun die Permanenz von elektronischen Impfausweisen für alternativlos erklärt. Die Devise „Sicher ist sicher“ kann doch nicht auf Dauer die Richtschnur einer freiheitlichen Gesellschaft werden.

Freiheitsfeindliche Tendenzen der Linken nehmen Sie auch in Bezug auf das Thema Digitalisierung und Kommunikation wahr… 

Ja. Covid ist nur ein Aspekt. Freiheitskritisch verhalten sich Teile der Linken mittlerweile auch im Bereich der digitalen Kommunikation – auch hier bezeichnenderweise mit den besten Absichten. Die Zeiten, in denen der digitale Aufbruch als Versprechen gefeiert wurde, der Hierarchien aushebelt und bislang stimmenlosen Gehör verschafft, sind vorbei. Hier sind gerade progressive Kräfte nun eher dazu übergegangen, unbegrenzte Freiheit im Netz in erster Linie als Risiko zu betrachten. Zu viel Freiheit, so die Annahme, und die nächste verantwortungslose Welle von Hass und Hetze steht uns ins Haus. Deswegen ist gerade in progressiven Kreisen der Rückhalt so groß für staatliches Eingreifen im Netz und für das Delegieren kommunikativer Hygienemaßnahmen an Internetkonzerne oder an den Staat. In den USA finden Sie mittlerweile renommierte Professoren an progressiven Hochschulen, die sich in Sachen Internetkontrolle explizit am Beispiel China orientieren wollen. Ein massiv autoritärer Staat als Vorbild – das gilt heute als fortschrittlich!

Als ein amtierender US-Präsident über Nacht aus allen sozialen Medien geworfen wurde, war die Freude im progressiven Lager grenzenlos.

Auch mit Zensur haben Teile der Linken heute augenscheinlich kaum noch grundsätzliche Probleme – sofern diese nur den richtigen trifft. Als ein amtierender US-Präsident über Nacht aus allen sozialen Medien geworfen wurde, war die Freude im progressiven Lager grenzenlos. Auch ich war kein Freund des trumpschen Twitterfeeds. Aber man sollte sich schon fragen, was für ein Präzedenzfall hier geschaffen wird. Mir zumindest bereitet sowohl die politische Kontrolle sozialer Medien als auch die Kontrolle der Politik durch soziale Medien Bauchschmerzen. Meinungsfreiheit war mal links – nicht zuletzt weil progressive Kräfte von der Rechten so rücksichtslos verfolgt wurden.  

Und die Meinungsfreiheit ist heute kein linkes Projekt mehr?  

Ich befürchte, heute gilt die Verteidigung von Meinungsfreiheit in Teilen des progressiven Milieus nicht mehr durchgängig als absoluter Wert. Hier gilt eher: Auf die Haltung kommt es an. Das aber beinhaltet immer die Gefahr der schiefen Ebene. Das Strafrecht ist für Volksverhetzung zuständig und das ist auch gut so. Aber heute will manch ein Progressiver am liebsten jede sogenannte irreführende Information verbieten. Da ist aber doch zu fragen: Irreführend für wen? Und von welchem vorgegebenen Pfad darf hier nicht mehr abgewichen werden? Und wer soll das bitte entscheiden?

Ist denn die Meinungsfreiheit ernsthaft bedroht?

Meinungsumfragen belegen zumindest eindeutig, dass gesellschaftliche Mehrheiten in zahlreichen westlichen Demokratien mittlerweile davor zurückschrecken, ihre Meinung zu bestimmten Themen offen auszudrücken. Nur politisch weit links stehende Menschen sind von diesem Trend ausgenommen. In Umfragen in den USA, im Vereinigten Königreich und in Österreich sind sie die einzigen, die nicht über Meinungskorridore klagen. Das sollte einem zu denken geben. Mag ja sein, dass auch ganz Links noch breite Mehrheiten für die Meinungsfreiheit einstehen. Aber dann ist die Linke offenkundig nicht sehr gut darin, diese Toleranz überzeugend zu kommunizieren. Hier wäre Selbstkritik sinnvoller als nur immer der Hinweis, die eigentliche Gefahr gehe doch von den Rechten aus.

Und wo haben die von Ihnen beobachteten freiheitsfeindlichen Tendenzen der Linken aus Ihrer Sicht ihren Ursprung?

Ich meine, das hat viel mit der Mechanik von gesellschaftlicher Hegemonie zu tun. Grundsätzlich war Freiheit immer auch der Schlachtruf der Minderheiten, die Übergriffe der Mehrheiten befürchteten. Heute leben Teile der Linken gerade in Zeiten des eskalierenden Kulturkampfes weiterhin in der festen Überzeugung, in der Konstellation David gegen Goliath nur die Steinschleuder in der Hand zu halten. Und in globaler Perspektive ist das ja vielerorts noch so. Aber in westlichen Demokratien sind progressive Kräfte tatsächlich längst in gesellschaftlichen Hegemonialpositionen angekommen – und das hat bekanntlich auch eine ganze Reihe von positiven Folgen.

Je stärker aber die Alternativlosigkeit von Links beschworen wird, desto problematischer wird dort dann auch die Wahrnehmung der Freiheit.

Doch problematisch wird es, wenn in dieser Rolle das Durchregieren plötzlich zeitgemäßer und zweckmäßiger erscheint als ein Einstehen für die Freiheit. Gerade in Zeiten der vermeintlichen allgegenwärtigen Alternativlosigkeit wird die Verteidigung der Freiheit dann schnell als Störaktion wahrgenommen. Freiheit ist vieles aber eben auch das Gegenteil von Alternativlosigkeit. Je stärker aber die Alternativlosigkeit von Links beschworen wird, desto problematischer wird dort dann auch die Wahrnehmung der Freiheit.

Man könnte auch die Klimakrise als eine Krise der Freiheit beschreiben: Weil wir unsere Freiheit, CO2 intensiv zu leben und zu wirtschaften, nicht ausreichend begrenzt haben, werden junge und zukünftige Generationen voraussichtlich herbe Freiheitseinschränkungen in Kauf nehmen müssen. Erfordert die Klimakrise ein neues Verständnis von Freiheit?

Die Klimakrise ist eine Krise der Freiheit, denn es gibt keine Freiheit auf einem toten Planeten. Trotzdem sehe ich die Forderung nach einem neuen Verständnis von Freiheit skeptisch. Gerade in Bezug auf den Klimaschutz ist es problematisch, wenn aktuelle und greifbare Freiheit im Hier und heute gegen eine spekulative Freiheit in der Zukunft aufgerechnet wird, so wissenschaftlich untermauert das auch sein mag. In der Vergangenheit wurden solche Argumentationsmuster immer wieder missbraucht. Wenn wir dem bösen Feind heute nicht entgegentreten, ist morgen der Krieg unvermeidbar. Wenn Du Frieden willst, plane den Krieg, und so weiter und so fort. Wer so argumentiert, hat nicht zwingend unrecht, aber kann noch jede Zumutung in der Gegenwart als ethisch einwandfreie Anforderung einer besseren Zukunft verkaufen. Freiheit aber schützt man nicht, in dem man sie einschränkt. Werte kann man nicht aufdrehen und abdrehen wie einen Wasserhahn. Denn was bedeutet Freiheit noch, wenn wir sie nun in erster Linie als das verstehen, was eben leider künftig nicht mehr geht – nicht zuletzt in Bezug auf den privaten Lebensstil? Wenn Freiheit erst einmal als Unterordnung unter den Zwang der Erfordernisse umdefiniert worden ist, wird es ganz schwer, noch rote Linien zu ziehen.

Sehen Sie in der Klimabewegung tatsächlich antifreiheitliche Züge? 

Nicht pauschal, aber in Teilen sicher. Greta Thunberg, die unter Beifall mit dem Megaphon diplomatische Verhandlungen als „blah, blah, blah“ abtut. Bestseller wie „How to blow up a pipeline“ oder Pamphlete des Extinction Rebellion Gründers, die für das parlamentarische System nur noch Verachtung zum Ausdruck bringen… Das mag man als Rhetorik abtun. Diese Einstellung aber hat Folgen, die für die Demokratie zumindest ambivalent sind. Auch die zunehmend verbreitete Forderung nach der Verkündung von Klimanotständen ist nicht eben ein Ausweis für Liberalismus. Denn was ist das anderes als die Botschaft, dass die etablierten Foren der Demokratie mit der Problemlösung überfordert sind? Und war der Ruf nach Notstandsgesetzen nicht stets eine Forderung der Rechten, auf die die Linke zurecht allergisch reagierte, nicht zuletzt um die Freiheit zu schützen? Aber sicher: Die Debatte ist schwierig, weil das Engagement für das Klima ja zu begrüßen ist. Doch wenn wir die Klimakrise nicht freiheitlich bekämpfen, riskieren wir einen Backlash, der jeden Klimaschutz unter Vorbehalt stellt.

Was bedeutet das für den Freiheitsbegriff? 

Dass wir andersherum argumentieren sollten: Ja wir brauchen einen Freiheitsbegriff zur Bearbeitung der Klimakrise. Aber wir brauchen ihn zur Entfaltung von Potenzialen, zum Erforschen von gesellschaftlichen Alternativen und zum Eröffnen nicht zum Schließen von Spielräumen. Sicher brauchen wir politische Umsteuerung und massive Investitionen und auch gesellschaftliche Regulierung. Aber aus der Klimakrise werden wir uns nicht postmaterialistisch gesundschrumpfen. Und schon gar nicht werden wir sie lösen, indem wir hoffen, Teile des globalen Südens erkennen frühzeitiger als wir den erhabenen Reiz postmaterialistischer Lebensentwürfe. Das ist nicht nur unrealistisch, sondern auch anmaßend.

Freiheit ist mehr als eine klimapolitisch erforderliche Verbots-Dividende. Sie kann und muss Teil der Antwort sein, die uns aus der Krise führt.

Deswegen ist Freiheit nicht Teil des Problems, sondern Teil der Antwort. Die aktuell verbreitete Perspektive, in der Freiheit als endliches Gut dargestellt wird, das aufgezehrt wird von Verbrauchern der Freiheit, finde ich deshalb so statisch wie riskant. Die Rechte setzt Freiheit gerne mit Kapital gleich – und tut ihr damit massiv Unrecht. Heute gibt es in Teilen der Linken den Versuch, Freiheit als Kategorie mit dem Ausstoß von CO2 oder Methan gleichzusetzen. Freiheit aber ist mehr als eine klimapolitisch erforderliche Verbots-Dividende. Sie kann und muss Teil der Antwort sein, die uns aus der Krise führt.

Ihre Kritik an linken Freiheitsdiskursen richtet sich in Teilen auch an linke Identitätspolitik. Inwiefern sehen Sie in der Identitätspolitik, die sich für die Befreiung und Gleichstellung von unterdrückten Gruppen stark macht, eine Gefahr für die Freiheit?

Linke Identitätspolitik, die sich wirklich für die Befreiung und die Gleichstellung von Unterdrückten stark macht, ist kein Problem für die Freiheit. Im Gegenteil. Das aber ist nicht das, was wir heute an partikularistischen Exzessen erleben. Da ist von Gleichberechtigung bekanntlich nicht mehr die Rede, sondern von einer Abkehr vom Universalismus, von Vorrechten und letztlich auch von unüberwindbarer Ungleichheit. Und ich bin ja nicht der erste, der das kritisiert. Wenn der Shooting Star des linken Antirassismus Ibram X. Kendi dezidiert erklärt, Diskriminierung sei die einzige Antwort auf Diskriminierung, berühren Teile des progressiven Lagers die Ungleichheitsfantasien der Rechten. Auch weißer Rassismus ist schließlich eine Form von partikularistischer Identitätspolitik. Wenn essenzialistische und unveränderbare Zuschreibungen zum Dreh- und Angelpunkt der Gesellschaftspolitik werden, ist es mit freiheitlicher Selbstentfaltung nicht mehr weit her. Glücklicherweise setzt sich diese Erkenntnis mehr und mehr durch. Intellektuell und konzeptionell ist diese linke partikularistische Identitätspolitik mittlerweile eigentlich umfassend widerlegt. Von Francis Fukuyama bis zu Noam Chomsky wurden die neo-rassistischen Fallstricke klar benannt. Nur hat das die weitere Ausbreitung dieser Weltsicht bisher nicht gestoppt. Mitarbeiter des Monats werden Sie heute noch immer nicht, wenn Sie sich in einem verordneten Diversitätsseminar auf das Ideal einer farbenblinden Gesellschaft berufen. Dafür gibt es auf dem Flur womöglich heimlichen Zuspruch.

Aber geht es der Identitätspolitik nicht vielmehr darum, durch das strategische Mittel der kurz- und mittelfristigen Bevorteilung von Benachteiligten (z.B. durch Quoten) langfristig das universelle Ziel gleicher Freiheiten zu erreichen?

Mag sein. Aber auch das kann man kritisch sehen. Denn in solchen Ansätzen wird Gerechtigkeit für Gruppen planmäßig über Gerechtigkeit für Einzelne gestellt – etwa wenn bestimmte Hilfen vordringlich nur an Angehörige von bestimmten Minderheiten ausgezahlt werden. Das ist in Ausnahmefällen sicher statthaft, aber taugt nicht als allgemeines gesellschaftliches Organisationsprinzip. Problematisch ist insbesondere das gerade in Nordamerika allgegenwärtig gewordene Schlagwort der Equity, das zunehmend den Wert der Gleichberechtigung also der Equality ablöst. In den ersten Exekutiv-Orders der Biden-Administration findet man den Begriff an jeder Ecke. Auch in den Dokumenten der Vereinten Nationen ist das Konzept plötzlich allgegenwärtig. Der Equity Diskurs beruht auf tatsächlich existierender und oft schockierender Ungleichheit. Die Unzufriedenheit ist also völlig legitim. Doch wenn Equity als Ziel allumfassend wird, bleibt eben kaum noch Raum für Chancengleichheit und für das Ziel von Diskriminierungsfreiheit. Dann geht es eher um Ergebnisgleichheit und letztlich um die Abbildung von gesellschaftlichen Normalverteilungen durch allgegenwärtige staatliche Eingriffe. Abweichungen werden auf strukturelle Diskriminierung zurückgeführt. Da bleibt keine Rolle mehr für Vorlieben, Talente, Präferenzen oder Leistungsbereitschaft. Das aber ist nicht nur antifreiheitlich, sondern im Anti-Individualismus letztlich vormodern. Eine Gesellschaft der Gleichberechtigung wird von einer segmentierten Gesellschaft abgelöst, die auch noch durch rigorose Sprechverbote durchgesetzt wird – denn demokratische Mehrheiten für solches Schubladendenken gibt es nicht – nicht einmal in den Communities die davon vorgeblich profitieren sollen.

Würden Sie hier einen Unterschied zwischen dem deutschen und dem US-amerikanischen Diskurs machen?

Ja, sicher. Aber den größten aktuell höchstens in der zeitlichen Versetzung. Sicher gibt es Unterschiede zwischen der deutschen und englischsprachigen Debatte. Aber bezeichnend ist eben auch, dass die Diskurse sich trotz der Unterschiede zunehmend angleichen. Das, was an britischen und amerikanischen Hochschulen begann, hat sich rasend schnell weiterverbreitet und strahlt heute weit über die Universitäten aus. Der aktuell bekannteste Fall ist vielleicht der der britischen Wissenschaftlerin Kathleen Stock. Ein trauriges Beispiel für die antifreiheitliche Cancel Culture, die in Teilen des progressiven Milieus leider weiterhin gern als rechtes Hirngespinst abgetan wird. Übrigens auch das auf beiden Seiten des Atlantiks. Der Freiheit als demokratischem Ideal ist mit so einer Realitätsverweigerung aber ganz sicher nicht gedient.


Michael Bröning ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Er war John F. Kennedy Memorial Fellow an der Universität Harvard, Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut Berlin und ist häufiger Kommentator zu Fragen europäischer Politik in deutschen und internationalen Medien. Seit 2020 leitet er die Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York. Zuletzt erschienen: »Lob der Nation« (Dietz).

Die Interviewfragen stellte Paul Jürgensen.

Autoren

Paul Jürgensen

Senior Grundsatzreferent
Paul Jürgensen ist Senior Grundsatzreferent des Progressiven Zentrums. In dieser Funktion verantwortet er übergreifende Projekte in den Themenfeldern „Gerechte Transformation“ und „Progressives Regieren“.
Moritz war Projektassistent im Kommunikationsteam des Progressiven Zentrums. Seinen Bachelor hat er im Bereich Internationale Beziehungen am Leiden University College The Hague gemacht, wo er sich interdisziplinär mit den globalen Herausforderungen unserer Zeit auseinandersetzte.

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