Drei Lehren für die Zukunft Ostdeutschlands

Thomas Kralinski zieht Bilanz nach 30 Jahren Wiedervereinigung

Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung sieht der frühere Chef der Brandenburgischen Staatskanzlei Thomas Kralinski weiterhin große strukturelle Unterschiede zwischen Ost und West. Statt über die gemachten Fehler zu jammern, müsse man aus ihnen lernen. Er fordert einen Bonus für dünn besiedelte Gebiete, die Wirtschaftspolitik “Vorsprung Ost” und ein Zentrum für Transformationsprozesse.

Die Wiedervereinigung Deutschlands war ein großes Glück. Für unser Land und für die allermeisten Menschen in Ost und West. Nun ist es kein Geheimnis, das nicht alles im Vereinigungsprozess glücklich gelaufen ist. Manche Strukturen und Lösungen – man denke an Kitas oder Polikliniken – hätte man besser erhalten und in den gemeinsamen Staat von Anfang an einbringen können. Viele ökonomischen Entscheidungen stellten sich im Nachgang als große Fehler heraus – sei es das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung oder der massive und schnelle Ausverkauf der Ostbetriebe. 

Dennoch: Hinterher ist man immer klüger. Und deshalb gilt es heute aus Fehlern zu lernen und die strukturellen Unterschiede, die es nach wie vor zwischen Ost und West gibt, offensiv anzugehen.

“Wer gut in seiner Heimat leben will, braucht ein Mindestmaß an Infrastruktur.”

Da sind zum einen Demografie und Geografie. Die neuen Länder haben nur gut ein Drittel der Bevölkerungsdichte der alten Länder. In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg wohnen gerade mal 70 bzw. 80 Menschen auf einem Quadratkilometer, in Bayern und Hessen 180 bzw. 300. Hinzu kommt: Die neue Länder haben in den vergangenen drei Jahrzehnten zwischen 10 und 30 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Nun ist Ostdeutschland schon traditionell dünner besiedelt, die vergangenen 30 Jahre haben diesen Prozess nur noch deutlicher werden lassen.

Aber: Wer gut in seiner Heimat leben will, braucht ein Mindestmaß an Infrastruktur. Wir reden von Bankautomaten, Post, öffentlichem Nahverkehr, Kneipen, Kultur, ÄrztInnen und sozialen Treffpunkten. Nun kann man all dies nicht überall staatlich verordnen. Zukünftig brauchen wir bei Bundesprogrammen und Finanztransfers einen Bonus für dünn besiedelte und strukturschwache Regionen – eben weil der Unterhalt öffentlicher Infrastruktur in dünn besiedelten Regionen teurer ist. 

Neue Wirtschaftszweige und Wertschöpfungsketten für einen “Vorsprung Ost”

Da sind zweitens die großen strukturellen Unterschiede in der Wirtschaft. Ostdeutsche Unternehmen sind deutlich kleiner, sie sind weniger exportstark, ihnen fehlen Mittel um zu investieren, zu forschen und zu entwickeln. Die Geschichte des “Aufbau Ost” ist in wesentlichen Teilen ein “Nachbau West” gewesen. Nur: Oberbayern bleibt ja auch nicht stehen. Wer immer nur “nachbaut”, wird nie Erster sein.

Die neuen Länder brauchen einen “Vorsprung Ost”.

Deshalb braucht es für die neuen Länder nun einen “Vorsprung Ost”. Die Gelegenheit ist günstig, denn wie nie zuvor entstehen weltweit gerade ganz neue Wirtschaftszweige und Wertschöpfungsketten. Sei es bei Digitalisierung, der Energieversorgung der Zukunft, Wasserstofftechnologien oder in der Mobilität. Mit beherzten Strukturentscheidungen kann es gelingen, diese neuen Technologien im Osten anzusiedeln – und so einer ganzen Region einen entscheidenden Vorsprung im globalen Wettbewerb zu sichern.

Die neue Tesla-Fabrik im brandenburgischen Grünheide ist dafür ein ermutigendes Beispiel – sie kann ein Startschuss für Schlüsselkompetenz im Bereich von E-Mobilität und Batterieherstellung für eine ganze Region sein und zwar weit über Brandenburg und Berlin hinaus.

Die emotionale Seite der Vereinigung: Ostdeutsche Lebensleistung anerkennen!

Und dann ist da drittens die emotionale Seite der Vereinigung. Viel zu wenig ist über die enormen Aufbau- und Anpassungsleistungen der Ostdeutschen geredet worden. Für viele Menschen im Osten kam gerade die wirtschaftliche Transformation eher als Zusammenbruch daher. Eine ganze Generation abgewanderter junger Menschen fehlt heute.

Die Ostdeutschen mit samt ihrem Erfahrungshintergrund sind krass unterrepräsentiert in Deutschlands Verwaltungen, Justiz, Medien und Wirtschaft. Das alles trägt dazu bei, dass nach wie vor bei vielen Ostdeutschen das Gefühl vorherrscht, “Bürger zweiter Klasse” zu sein. Hier sind mehr Offenheit und Aufmerksamkeit nötig, mehr Ostdeutsche in Führungsetagen. Und es braucht einen zentralen Ort in Ostdeutschland, wo das Wissen über die Transformation konzentriert wird, wo die Anerkennung der Lebensleistungen auch ihren physischen Ausdruck findet, wo Vernetzung und Austausch stattfindet.

Heute. Morgen. Übermorgen.

In „Übermorgen“ singt Mark Forster „Guck, wie weit wir’s schon geschafft hab’n. Doch ich glaub‘, ist nur der Anfang. Keine Träne ist hier umsonst. Ich wein‘ vor Glück wegen dem, was kommt.“ Genau darum geht es: Aus dem Wissen und den Transformationserfahrungen der vergangenen drei Jahrzehnte eine Ressource für kommenden Jahre und Jahrzehnte machen.


Tiefgehender Blick auf die Transformation Ostdeutschlands

Wer sich tiefergehend mit der Transformation in Ostdeutschland beschäftigen möchte, dem empfiehlt Thomas Kralinski das Buch “Lütten Klein” von Steffen Mau:

“Mit das Klügste, was ich in jüngster Zeit über die Transformationserfahrungen der Ostdeutschen gelesen habe. Weil es ganz praktische Erfahrungen mit soziologischen Beobachtungen kombiniert. Steffen Mau ist in seine alte Heimat zurückgegangen: nach Lütten Klein – ein Stadtteil von Rostock. Ein Neubauviertel wie es hunderte davon im Osten gibt. Er hat beobachtet, mit Menschen gesprochen, die Veränderungen im Leben der Leute in Lütten Klein beschrieben. Und er erklärt verständlich, wo die ‘Frakturen’ in der ostdeutschen Gesellschaft herkommen und vor welchen Herausforderungen wir noch stehen.” 

Steffen Mau
Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft

Verlag: Suhrkamp
22 Euro

Autor

Thomas Kralinski ist Mitgründer des Progressiven Zentrums und war bis 2022 Mitglied des Vorstands. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Osteuropawissenschaft in Leipzig und Manchester (UK).

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