Corona: Full House im Gesellschaftspoker

Über das Leben in der Krise

Krisen gibt es viele, Corona nur einmal. Was je nach Lesart zynisch bis trivial klingt, zielt in Wahrheit auf den Kern jener Ausnahmesituation, in der wir uns alle gegenwärtig befinden.

Zunächst einmal, das ist die erste Satzhälfte, ist da die simple Feststellung, dass unser noch immer junges Jahrhundert bislang alles andere als arm an Krisen und krisenhaften Verwerfungen gewesen ist.

Ob nun Terror in Paris oder leere Rentenkassen in Berlin: Krisen lauern an jeder Ecke, sie schneiden und überkreuzen sich und nicht selten bedingen sie einander auch.

Zugleich sind Krisen aber vornehmlich Zuschreibungsgefüge. Nicht anders als die Reform oder die Agenda hat sich nämlich auch die Krise schon seit längerer Zeit in jenem Zwischenraum des politischen Vokabulars eingenistet, der einerseits bedeutungsschwer erscheint und andererseits eine quasi-universelle Verwendbarkeit unterstellt. Sie ist in diesem Sinne weniger das Produkt nachprüfbarer Sachstände als der Sensibilität oder des Kalküls. Schließlich kann etwas zur Krise zu erhöhen auch durchaus eine von langer Hand geplante aufmerksamkeitsökonomische Strategie sein.

Soweit jedenfalls die Lage zum Jahreswechsel, als die ausgiebige Beschäftigung mit Coronaviren noch in den exklusiven Zuständigkeitsbereich von Virolog*innen, Ärzt*innen und mehr oder minder interessierten Student*innen an den medizinischen Fakultäten der Republik fiel. Seitdem hat sich einiges getan und Corona ist zu dem herangewachsen, was dem Urbild einer Krise insofern am nächsten kommt, als dass sich hier alle gängigen Krisenmerkmale lehrbuchmäßig wiederfinden: das Überraschungsmoment, die Handlungsunsicherheit und der Bedrohungs- beziehungsweise Schadenscharakter.

Was diese Pandemie indes von den anderen Großkrisen der jüngeren Vergangenheit unterscheidet, und hier kommt die zweite Satzhälfte der Eingangssentenz ins Spiel, sind Plastizität und Erlebniszugang.

Die einstürzenden Türme des 11. Septembers, die ins Bodenlose fallenden Börsenkurse der Finanzkrise, die bleiernen Brüsseler Nachtrunden der Eurokrise und die abschmelzenden Polkappen der Klimakrise waren und sind Ereignisse, die außerhalb des unmittelbaren Erfahrungskontexts einer breiten Bevölkerungsmehrheit standen und primär in medial gefilterter Form wahrgenommen wurden. Im Age of Corona gibt es diese Schutzfolie der künstlichen Distanz aber nicht länger. Die beklemmenden Szenen aus Mailand oder New York hätte man vielleicht noch aus dem Alltag bannen können, aber spätestens wenn Schulen und Universitäten schließen, Toilettenpapier und Nudelpakete ausverkauft sind, und das verpflichtende Tragen eines Mund- und Nasenschutzes in den Rang eines allgegenwärtigen Politikums aufsteigt, gibt es vor der Wucht der Krise, ihrem geradezu unverschämten Eindringen in die innersten Sanktuarien der eigenen Lebensgestaltung, keinen wirklichen Rückzugsort mehr.

Interessant ist dabei, dass besagte Plastizität nicht vom eigentlichen Krisenauslöser, also dem Virus mit der sperrigen Namen SARS-CoV-2 herrührt (das ja in unserem Alltagsverständnis unsichtbar und damit eben gerade nicht-plastisch ist), sondern eine soziale Gegebenheit darstellt, die wir mit unserem Reaktionsinstrumentarium selbst geschaffen haben und tagtäglich reproduzieren. Wir sind es, die Reisevorhaben aussetzen, Home Offices einrichten und krisenadäquate Sozial- und Kommunikationsmuster einüben. Wir sind es, die im Eilverfahren Gesetze beschließen, Verordnungen erlassen, Sonderhaushalte verabschieden und der Suche nach einem wirksamen und verlässlichen Impfstoff die höchste nur denkbare Priorität einräumen. Dass wir das alles tun ist gut und richtig und soll auch nicht zum Gegenstand wohlfeiler Kritik werden. Dafür ist Corona eine zu ernste Angelegenheit. Was angesichts dieser binnen kürzester Zeit in Gang gekommenen Handlungsmaschinerie aber erlaubt sein muss ist die Frage: Warum gerade jetzt?

Warum funktioniert auf einmal, was ansonsten nicht oder nur unzureichend funktioniert?

Warum werden in Coronazeiten großflächige volkswirtschaftliche Verwerfungen mit einem Achselzuckend in Kauf genommen, während man sonst schon bei recht unambitionierten Klimapaketen die Wohlstandskeule aus dem politischen Delegitimationsarsenal hervorholt? Warum können stante pede weitreichende Grundrechtseinschränkungen durchgesetzt werden, während man sonst für den bloßen Vorschlag, die Gesellschaft möge Umwelt und Klima zuliebe doch ihr Verlangen nach Billigfleisch ein wenig zügeln, diskursive Prügel einstecken muss? Natürlich sind das rhetorische Fragen, deren Antwort in einer klaren Dringlichkeitshierarchie zwischen dem Akuten und dem Aufschiebbaren liegt. Und da gilt: Corona ist akut, Klima ist aufschiebbar. Wenn der Kampf gegen die Erderwärmung ein Flush im gesellschaftlichen Priorisierungspoker ist, dann ist der gegen das Virus mindestens ein Full House


Der Blog
Corona & Society: Nachdenken über die Krise
Was können Gesellschaft und Politik programmatisch-konzeptionell aus der Krise lernen?


Etwas ketzerisch ließe sich nun freilich die Frage aufwerfen, ob es nicht genau andersherum sein sollte. Denn auch ohne die in vielerlei Hinsicht desaströsen Auswirkungen der Corona-Pandemie kleinreden zu wollen, dürfte doch Konsens sein, dass ihr die existenzielle und irreversible Komponente der Klimakatastrophe zumindest auf der gesellschaftlichen Ebene fehlt. Das Erdklima kennt keinen Impfstoff, der die ihm eigene Krisenkonstellation auflösen und dauerhaft für Entspannung sorgen könnte. Ebenso wenig kennt es alltagstaugliche Schutz- und Verhaltensmuster, mit denen wir unsere persönliches Betroffenheitsrisiko abfedern oder gar minimieren können. Und zu guter Letzt stehen dort nicht nur das Leben und die Gesundheit des Einzelnen, sondern, falls ein Kurswechsel ausbleibt und bestehende Trends sich weiter verschärfen, der zivilisatorische Fortbestand der Menschheit als solcher auf dem Spiel. Man mag gerne konzedieren, dass die Refokussierung auf Corona in manchen Politikfeldern mit einem gewissen Modernisierungs- und Erneuerungspotential einhergehen kann. Zugleich gilt aber eben auch festzuhalten, dass umwelt- und klimapolitische Forderungen, die noch vor Monaten im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit standen, jetzt unter Verweis auf das Primat der Pandemiebekämpfung auf ein imaginäres später vertagt oder gleich als völlig nebensächlich vom diskursiven Spielfeld gegrätscht werden. Aus progressiver Sicht ist dieses eigentümliche Überlappen einer statischen Langzeit- durch eine dynamische Kurzzeitproblematik eine beunruhigende Entwicklung, die zu folgenden Schlüssen einlädt: 

(1) In einer multiplen Dauerkrise (Rahel Jaeggi) zu leben, also mit der Gleichzeitigkeit verschiedener Krisenlagen umgehen zu müssen, zwingt Gesellschaften zur Priorisierung, wobei die bereits genannten Kategorien akut und aufschiebbar einer strikten Logik des Augenblicks folgen. Um Problemlagen wie den Klimawandel effektiv angehen zu können, müssten Handlungs- und Reaktionsmechanismen in einen stabileren institutionellen Rahmen eingebettet werden, der dem Paroli bietet und sich dabei hinreichend resilient zeigt. (2) Soziale Plastizität ist entscheidend. Einer Krise, die fühl- und erlebbar ist, die Alltagsroutinen berührt und nicht nur abschmelzende Alpengipfel, kommt ein viel intensiverer psychopolitischer Prägecharakter zu. Wenn sich Möglichkeiten ergäben, eine solche Plastizität auch in Bezug auf die Klimakrise herzustellen, wäre einiges gewonnen. (3) Nichts ist für die Ewigkeit, schon gar keine Krise. Früher oder später, soviel ist sicher, wird auch Corona enden; sei es nun durch Entwicklung und Markreife eines zuverlässigen Impfstoffs, die schleichende Normalisierung des Krisenhaften, oder ein um sich greifendes Unbehagen gegenüber dem weiteren Fortbestand des Krisennarrativs. In jedem Fall gilt: Töricht ist, wer sich nicht heute schon auf die Agendakämpfe der Post-Corona-Zeit vorbereitet. 


Autor

Marco Bitschnau

Universität Konstanz
Marco Bitschnau ist Postdoktorand an der Universität Konstanz, wo er Mitglied des Exzellenzclusters "The Politics of Inequality" und des Fachbereichs Soziologie ist. Er studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Friedrichshafen, Paris, Cambridge und Neuchâtel und war Gastwissenschaftler an der University of California in Berkeley.
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