Zeitwohlstand für alle!

Warum Burnout & Überlastung in den Fokus progressiver Politik rücken müssen

Zusammenfassung

Stress, Leistungsdruck, Depressionen: Der Anstieg psychischer Erkrankungen ist dramatisch, nicht erst seit der Corona-Pandemie. In diesem Discussion Paper beleuchtet Robert Schütte die psychischen Auswirkungen der Wettbewerbsgesellschaft und fordert Progressive auf, endlich eine neue Perspektive auf Leistung, Arbeit und Zeitgerechtigkeit zu entwickeln.

Mit steigendem Wettbewerbsdruck ist der materielle Wohlstand in unserer Gesellschaft zwar gestiegen, ist jedoch zulasten der mentalen Gesundheit vieler Arbeitnehmer:innen gegangen.

Robert Schütte identifiziert Zeitungerechtigkeit als einen blinden Fleck für Progressive und wirft ihnen vor, das Narrativ der Wettbewerbsgesellschaft übernommen zu haben. Sein Appell: Progressive sollten die Art und Weise ändern, wie wir Arbeit zeitlich strukturieren und kulturell bewerten.

Burnout als gesellschaftliches Symptom 

Das Narrativ einer individualisierten Wettbewerbsgesellschaft und ein damit einhergehender Leistungsdruck prägen den Alltag vieler Arbeitnehmer:innen. Als Begleiterscheinung sind Angst, Stress und Burnout in den letzten Jahren erheblich angestiegen: Mittlerweile sind in Deutschland 17,8 Millionen Erwachsene jährlich von psychischen Erkrankungen betroffen. Eine Mehrheit empfindet eine deutliche Zunahme des Arbeitsstresses und jede:r Zweite sieht für sich sogar ein Burnout-Risiko.

Interessant dabei ist: Früher machte Arbeit vor allem körperlich krank. Heute kommt zumeist die Psyche unter die Räder. Und während der physische Arbeitsschutz in Deutschland gut entwickelt wurde, ist der Schutz vor Stress löchrig wie ein Schweizer Käse.

Robert Schütte, Policy Fellow

Zeitarmut trifft nicht jeden gleich

Mehr Zeit ist ein wirksames Mittel, um dem ansteigenden Stress und der Überlastung zu begegnen. Die Verteilung von Zeit ist dabei eine zentrale Gerechtigkeitsfrage unserer Zeit. Die Corona-Krise wirkt als Verstärker eines Misstands, der nun umso deutlicher zutage tritt: Zeitungerechtigkeit. Mann muss nur einmal den Blick auf Jobs im Servicesektor im Vergleich zu Homeoffice-Jobs werfen. Zeitarmut betrifft aber auch Eltern – und dabei überwiegend Frauen – besonders hart. Sie übernehmen immernoch mehr Familienarbeit und verdienen im Job weniger. Zum „Gender Pay Gap“ kommt also auch ein „Gender Time Gap“ hinzu.

Neben der sozialen und geschlechtsbedingten Zeitungerechtigkeit verlaufen auch geografische Trennlinien: So arbeiten Menschen in Ostdeutschland beispielsweise mehr Stunden pro Woche als der westdeutsche Durchschnitt und haben gleichzeitig weniger Urlaubszeit zur Verfügung.

Mentale Gesundheit und Zeitwohlstand auf die progressive Agenda setzen

Der Wunsch nach Zeitwohlstand und damit einhergehend weniger Stress ist ein Thema, das politisch angegangen werden muss. Dazu gehören beispielweise eine Erhöhung des gesetzlichen Mindesturlaubs oder eine anteilige Anerkennung des Arbeitsweg als Arbeitszeit. Arbeitgeber:innen könnten zudem Teilzeit besser fördern und der Staat vermehrt in Kinderbetreuung investieren – zur zeitlichen Entlastung von Familien.

Progressive können zudem Veränderungen herbeiführen, indem sie anders über das Thema Arbeit sprechen. Anstatt blind ein konservatives Wettbewerbsnarrativ zu übernehmen, ist es wichtig, die Lebensrealität vieler Bürger:innen anzuerkennen. Und die dreht sich nicht nur um Leistung und Arbeit, sondern um Lebensqualität. Statt der Fixierung auf volkswirtschaftliche Indikatoren und materielle Verbesserung, sollten Progressive auch die mentale Gesundheit in den Blick nehmen.

Es ist an der Zeit, einen Gegenentwurf zur individualisierten Wettbewerbsgesellschaft zu schaffen und die Themen Lebensqualität und Gesundheit stärker in den Fokus rücken. Dafür kann der Amtsantritt der neuen Regierung ein Auftakt sein.

Autor

Robert Schütte arbeitet als Redenschreiber im Bundesministerium für Arbeit und Soziales und war davor in der SPD-Bundestagsfraktion und dem Bundesumweltministerium tätig. Robert ist Policy Fellow im Progressiven Zentrum und Gründer der Menschenrechtsorganisation Genocide Alert.

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