Zeitenwende in der Außenwirtschaftspolitik: It’s not only China, stupid!

Die Ampelkoalition sollte ihre außenwirtschaftspolitische Neuorientierung nicht auf das Verhältnis zu China verengen. Was Deutschland und die EU brauchen, ist eine grundsätzliche Strategie für den Umgang mit autokratischen Handelspartnern

In seiner Rede zur Zeitenwende vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 in Berlin hat Bundeskanzler Olaf Scholz insbesondere auf eine außen- und sicherheitspolitische Zeitenwende hingewiesen. Vor dem Hintergrund des aktuellen russischen Krieges in der Ukraine, aber auch im Hinblick auf die sich bereits seit mehreren Jahren verschiebenden globalen Machtverhältnisse, bedarf es jedoch ebenso einer außenwirtschaftspolitischen Zeitenwende.

Nicht erst mit dem russischen Angriffskrieg und den damit schmerzhaft deutlich gewordenen Abhängigkeiten im Energiesektor, sondern spätestens seit dem Handelskrieg zwischen den USA und China und der wachsenden Rivalität der beiden Staaten sind grundlegende Verschiebungen in der globalen Ordnung zu beobachten. Bedingt durch seinen ökonomischen Aufstieg hat sich China als Global Player etabliert, der geostrategisch investiert und seinen ökonomischen und politischen Einfluss ausbaut. Demgegenüber haben sich die USA unter der Trump-Regierung aus ihrer hegemonialen Rolle zurückgezogen – ein Rückzug, der auch durch Präsident Biden nicht wieder völlig rückgängig gemacht wurde. Gleichzeitig kam es in den vergangenen 20 Jahren zu einer stärkeren internationalen Verflechtung durch globale Wertschöpfungs- und Lieferketten, die auch mehr Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten mit sich brachte. Diese Abhängigkeiten werden seit einigen Jahren im Sinne einer „Weaponized Interdependence“ immer mehr von Staaten genutzt, um wirtschaftlichen Zwang auszuüben. Das ist insbesondere an der Anzahl an Sanktionen, welche von rund 25 im Jahr 1950 auf über 450 im letzten Jahr angestiegen ist, zu beobachten. Dass solche geoökonomischen Instrumente zunehmend genutzt werden, spiegelt die Verzahnung von Ökonomie und Außenpolitik wider. Eine ehemals überwiegend von ökonomischen Regeln geprägte Außenwirtschaftspolitik hat sich zu einer Geopolitisierung der Wirtschaft verkehrt.  

Die nun anstehende außen(wirtschafts)politische Zeitenwende wird gleichermaßen durch sich verändernde äußere Gegebenheiten wie durch die intrinsische Notwendigkeit einer neuen strategischen Ausrichtung bedingt. So sehen sich Deutschland und die EU, getrieben durch die oben beschriebenen globalen Veränderungen, der Notwendigkeit gegenüber, eigene Strategien zu entwickeln, um ihre Rolle im internationalen Machtgefüge zu halten bzw. neu zu etablieren. Dabei geht es um nichts weniger als die Definition der Rolle Europas zwischen den beiden Rivalen USA und China.

Erst die Analyse, dann die Strategie

Aufgrund der oben beschriebenen stärkeren Verzahnung von Ökonomie und Außenpolitik ist das Einbeziehen von beiden Elementen, der Außenpolitik und der Ökonomie, auch in den anvisierten Strategien erforderlich. Egal ob Nationale Sicherheitsstrategie oder China-Strategie – was es zunächst braucht, ist eine Auseinandersetzung mit der Frage: Wo steht Deutschland? Und damit ist eben nicht nur der außen- und sicherheitspolitische Status Quo gemeint, sondern auch die wirtschaftliche Einbettung Deutschlands und der EU. 

Die Beantwortung der Frage nach Abhängigkeiten und Bedarfen ist grundlegend für die Formulierung von strategischen Zielen. Auf der ökonomischen Seite spielen hier mehrere Faktoren für Deutschland eine Rolle: Als exportorientiertes Land ist Deutschland mehr als andere Länder auf gut funktionierende internationale Handelsbeziehungen angewiesen. Die Bundesrepublik hat darüber hinaus auch Wachstumsmärkte in Schwellenländern stärker erschlossen als andere Länder und  sich daher ein Stück weit abhängig von politischen wie ökonomischen Entwicklungen in diesen Staaten gemacht. Zudem bestehen besondere Abhängigkeiten im Bereich der fossilen energetischen Ressourcen und – durch dominierende Zukäufe und geringe Direktinvestitionen – ebenso im Bereich der kritischen Rohstoffe, Halbleiter und Mikrochips. Darüber hinaus gilt es für Deutschland, die Sicherung von Handelswegen auch im technologischen Bereich zu sehen und zu verstehen. Außerdem sollte sich Deutschland immer als Teil der EU betrachten, deren größtes geopolitisches Gewicht der Binnenmarkt ist, auf den sich auch die geoökonomisch gewichtige EU-Handelspolitik stützt. 

Die Definition und Einschätzung von Abhängigkeiten ist gleichwohl keine einfache Aufgabe. So bilden Importkonzentrationen nur einen Teil der Lieferkette ab und oftmals fehlen Daten, um alle Abhängigkeiten entlang der Lieferkette komplett zu erfassen. Die nun häufig genannte Diversifizierung kann Angebotsschocks abfangen, indem kurzfristig auf andere Anbieter ausgewichen werden kann. Dennoch kann sie nicht vor Preisschocks auf den Weltmärkten schützen. Um Abhängigkeiten von kritischen Handelspartnern und in bestimmten Sektoren zu verringern,wird es entscheidend sein, den Grad der eigenen Abhängigkeiten zu verstehen und ein realistisches Bild der eigenen Positionen und Bedarfe zu erhalten. 

Gleichzeitig wird deutlich, dass nicht alle Abhängigkeiten verringert werden können, da es in einigen Bereichen, beispielsweise bei manchen seltenen Erden oder aber auch bei Halbleitern, starke Marktkonzentrationen bezogen auf Lagerstätten, Produktion und Weiterverarbeitung gibt. Liegen alle drei Bereiche in der Hand weniger oder gar eines Landes, ist eine Diversifizierung der Lieferkette hin zu anderen Ländern schwierig und die Abhängigkeit in der kurzen Frist kaum zu verringern. In der öffentlichen Debatte um  Abhängigkeiten und Marktkonzentrationen wird China großes Gewicht beigemessen. Neueste Ergebnisse des Kiel Instituts für Weltwirtschaft zeigen, dass insgesamt nur ein sehr kleiner Teil der deutschen Produktion direkt oder indirekt von chinesischen Vorleistungen abhängig ist. Bei einzelnen Rohstoffen und Produkten im Bereich Elektronik ist Chinas Dominanz jedoch unumstritten. Hier könnten tatsächlich Engpässe entstehen, sollte es beispielsweise zu Sanktionen gegen China kommen, da diese Produkte nicht kurzfristig durch andere Lieferanten ersetzt werden können.

Breite Autokratienstrategie statt Lex China

Es stellt sich die Frage des Umgangs mit China, die die Bundesregierung mit einer China-Strategie zu lösen versucht. Diese Strategie ist außen- und sicherheitspolitisch motiviert, reicht aber – aufgrund der Verzahnung dieser Politikbereiche – auch in den außenwirtschaftspolitischen Bereich hinein. Dennoch wird eine explizite Lex China auf wirtschaftspolitischer Ebene vermieden – auch weil dem das Diskriminierungsverbot in der multilateralen Wirtschaftsordnung entgegensteht. 

Eine strategische Auseinandersetzung mit China ist in jedem Fall begrüßenswert. Ob es einer länderspezifischen Strategie bedarf, ist aus verschiedenen Gründen allerdings fraglich. Denn diese würde Schritte mit sich bringen, die wir wiederum anderen häufig zum Vorwurf machen: protektionistische Eingriffe in und staatliche Vorgaben für wirtschaftliche Prozesse. Außerdem würde schnell die Frage nach Strategien im Umgang mit anderen Ländern aufkommen – wie etwa den USA und dem Umgang mit deren Inflation Reduction Act. Darüber hinaus stehen länderunspezifische Maßnahmen bereits zur Verfügung, sichtbar beispielsweise beim Anti-Coercion Instrument der EU oder dem EU Investment Screening Mechanism.

Warum also entwirft man nicht eine breitere Strategie für den Umgang mit schwierigen Handelspartnern? Schließlich ist es das häufig erratische, unvorhersehbare Verhalten solcher Regierungen, was Schwierigkeiten bereitet, aber nicht idiosynkratisch für China ist, sondern charakteristisch für autokratischere Regierungssysteme, deren Anzahl mittlerweile die demokratisch regierter Staaten übersteigt. 

Bei einer solchen breit angelegten Strategie müsste der Blick auf alle potentiell schwierigen Verhaltensweisen geweitet werden. Dies beugt, wie oben beschrieben, der Frage nach immer weiteren länderspezifischen Strategien vor. Gleichzeitig würde nicht nur ein China-spezifisches Instrumentarium entstehen. Jedoch wären auch bei der Erstellung einer solchen Strategie bestimmte Faktoren zu beachten.

Erstens bedarf es eines besseren Verständnisses von Autokratisierung und der Frage, ob bzw. wie diese mit protektionistischer Handelspolitik zusammenhängt. Zweitens muss Autokratisierung als ein Prozess gesehen werden. Eine Einteilung nach einem „schwarz-weiß“ Schema in autokratisch und demokratisch bildet die Transformationsprozesse, in denen Staaten über längere Zeiträume hinweg stecken und die eine Autokratisierung/Demokratisierung bedingen können, nicht korrekt ab und wird dementsprechend der Realität nicht gerecht. Drittens müssen ebenso Tendenzen zu Populismus und Konfliktanfälligkeit mitgedacht werden – beides hat nachweislichen Einfluss auf Außenwirtschaft und Außenwirtschaftspolitik und überschneidet sich häufig mit Autokratisierung. Die Bedeutung all dieser Faktoren (Erosion von Demokratie, Populismus, Konflikte) wird deutlicher, wenn man die jüngsten protektionistischen Bestrebungen in den USA (Inflation Reduction Act) betrachtet.

Viertens müssen ganz im Sinne der „Weaponized Interdependence“ die Netzwerktopografie sowie die Geografie mitgedacht werden, in welchen manche Staaten Macht über bestimmte Knotenpunkte haben und ausüben können. Dieser Aspekt macht auch schnell deutlich, dass es durchaus länderspezifische Aspekte gibt: So kann beispielsweise derzeit die Türkei Migration als Druckmittel gegenüber der EU verwenden, China könnte dafür eher durch Vorgaben für ausländische Investoren Druck ausüben, andere Länder wiederum durch Exportinterventionen für bestimmte Zwischenprodukte und Rohstoffe.

Bei der Bestimmung von Verwundbarkeiten bedarf es somit einer Metrik, die mehr umfasst als reine Importkonzentrationen, Tendenzen in der Handelspolitik oder selten vorkommende Rohstoffe und Zwischenprodukte. Diese muss ebenso Indikatoren für die Governance-Performance der jeweiligen Staaten enthalten. In Abhängigkeit von den eigenen Interessen, Abhängigkeiten und Zielen sind diese Faktoren dann zu bewerten und zu einer Strategie auszubauen. 

Insgesamt wird deutlich, dass nicht nur die Ansätze in der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch  der Außenwirtschaftspolitik vor dem Hintergrund der Zeitenwende hinterfragt werden müssen. Wichtig ist, dass diese stärker gemeinsam gedacht werden. Darüber hinaus muss Deutschland sich in und mit Europa in der neuen geoökonomischen Weltlage positionieren. Dies wird nicht ohne eine Auseinandersetzung mit den eigenen Schwächen und Stärken und mit einer Übertragung dieser in strategische Ziele gehen. Anstelle von einzelnen länderspezifischen Strategien sollte sich die Bundesregierung mit dem Thema geoökonomischer Interessen vor dem Hintergrund wachsender Autokratisierung befassen.

Autorin

Katrin Kamin

Stellvertretende Leiterin des Forschungszentrums Trade Policy
Katrin Kamin ist stellvertretende Leiterin des Forschungszentrums Trade Policy und Co-Leiterin der Geopolitics and Economics Initiative am Kiel Institut für Weltwirtschaft.

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