Digitalisierung mit Balance – statt schleichender Blackout

Seit Jahren soll Deutschland digitalisiert werden. Doch das Projekt eines modernen Staates kommt an dieser Stelle kaum voran. Das Land digitalisiert höchstens punktuell – und ohne Sinn und Verstand. Aus der Planlosigkeit entwickelt sich zunehmend die Gefahr eines schleichenden digitalen Blackouts.

Die Ziele sind ehrgeizig. Deutschland soll endlich einen digitalen Aufbruch erleben. Dafür ist wichtig, dass endlich auch der Staat digital wird. Nicht nur die an vielen Stellen bemühten Lehren aus der Corona-Pandemie zeigen deutlich, wo unsere Aufgaben liegen. Für Bürger:innen geschlossene Verwaltungen, Schulen, die mit Hochdruck Distanzunterricht in digitaler Form aufbauen mussten, Unternehmen, die in diesen Situationen unter dem schleppenden Aufbau digitaler Infrastruktur litten. All das zeigt sehr deutlich, dass wir in Deutschland dringend Schritte gehen müssen, digitale Anwendungen stärker zu nutzen.

Doch bisher gilt: Deutschland digitalisiert sich ohne Sinn und Verstand. In Staat und Verwaltung wird vor allem das seit Jahrzehnten gebräuchliche Verwaltungsmodell „elektrifiziert“: Die ehrgeizigen Vorgaben des Onlinezugangsgesetzes, dass in Deutschland alle staatlichen Leistungen digital verfügbar sein sollen, ist jüngst an der Realität zerschellt. Sein Absolutheitsanspruch hat im Ergebnis dazu geführt, dass die Bürger:innen zum Stichtag nur eine Handvoll Leistungen flächendeckend digital nutzen können. Auf solchen Wegen wird Digitalisierung aber zum Selbstzweck, es wird digitalisiert um der Digitalisierung Willen. Wenn wir den Weg einer ungesteuerten Digitalisierung nicht in einen Pfad der gesamtgesellschaftlichen digitalen Transformation verwandeln, gerät Deutschland weiter ins Hintertreffen und unser Wohlstandsmodell in Gefahr. Am Ende stehen Abhängigkeiten von großen Tech-Konzernen und die Aushöhlung der digitalen Daseinsvorsorge. Diese Abhängigkeit kann dazu führen, dass wir die Kontrolle abgeben und am Ende auch unsere Demokratie Schaden erleidet. Dann beschreiten wir den Weg eines schleichenden Blackouts aufgrund fehlender Digitalisierung.

Die politische Debatte beleben

Wir müssen die zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts zur digitalen Transformation unseres Staates nutzen. Dass wir in Deutschland einem schleichenden Blackout wegen zu viel oder zu wenig Digitalisierung gegenüber stehen, ist kein parteipolitisches Problem. Egal, welche politische Farbe, alle Digitalverantwortlichen haben die gleichen Hürden und vor allem meistens die gleichen Ansätze. Das ist gut und schlecht zugleich. 

Gut, weil so ein Team entstanden ist. Egal, welcher politischen Couleur, man zieht an einem Strang. So sind während der Koalitionsverhandlungen 2021 und während der Diskussion über ein OZG-Nachfolgegesetz 2023 einstimmig zwei grundlegende Papiere entstanden, die die Agenda der Digitalverantwortlichen in Deutschland gut umreißen. Wie es so schön heißt:, Wwir haben kein Erkenntnisproblem.

Dass wir keinen politischen Streit darüber haben, ist aber auch schlecht. Denn es bedeutet, dass die Gestaltung der Digitalisierung immer noch den für sie verantwortlichen Politiker:innen und Fachleuten vorbehalten ist. Wir haben aber gesehen, dass die digitale Transformation uns alle angeht. Ob wir wollen oder nicht.

Wir sehen, dass die globalen Krisen sehr viel politische Kraft und Zeit einfordern. Ein „business as usual“ gibt es spätestens seit Februar 2022 nicht mehr. Politische Entscheidungen verlangen, die aktuellen Ereignisse mit zu berücksichtigen und einzuplanen. Viele Projekte und Themen müssen darum kämpfen, weiterhin im Bewusstsein zu bleiben. Dies gilt auch für die Digitalisierung. Sie darf nicht – ja, sie muss gerade in diesen Zeiten – Priorität in der Politik haben. 

Deswegen müssen wir die aktuellen partiellen Diskussionen über den Einsatz Künstlicher Intelligenz – Stichwort ChatGPT – oder von Augmented Reality – das Metaverse lässt grüßen – nutzen, damit ein breites politisches und gesellschaftliches Bewusstsein entsteht, welchem Zweck das Mittel der Digitalisierung dienen soll. Derzeit hängen wir jedoch hinterher. Dabei ist es aus unserer Sicht nicht ausschlaggebend, ob wir im Ranking mit anderen Ländern nun vorne oder weiter hinten liegen. Das sollte mitnichten der Antreiber für unsere Digitalpolitik sein.

Die richtigen Antreiber finden und stärken

Antreiber sollte die Nutzer:innenorientierung sein: Was bringt uns die Nutzung digitaler Tools an Erleichterung? Diese Leitfrage führt mitunter weg von den eingeschlagenen Wegen. Gleichzeitig ist klar, wer diese Frage eigenständig beantworten möchte, benötigt auch die Fähigkeiten, dazu eine Bewertung vornehmen zu können. Daher brauchen wir Schritte zur Digitalen Souveränität. Wenn die Lage hinsichtlich eines neuen Datenschutzabkommens zwischen den USA und Europa unsicher ist, wird es noch einmal bedeutend sein für uns, dass wir unsere Gesellschaft und unseren Staat resilient aufstellen. Wir also auf Krisen gut reagieren können und eine Infrastruktur haben, die unabhängiger und damit stressresistent ist. Wir sichern so Freiheit und soziale Sicherheit – und unseren Wohlstand.

Das müssen wir begreifen. Wir brauchen mehr Beschäftigung mit der Digitalisierung. Mehr Menschen müssen davon überzeugt sein, dass digitale Verfahren Vorteile bringen – und diese Verfahren müssen auch wirklich Vorteile bringen. Hierzu müssen wir bereits sein, auch politische Strukturen zu verändern. Die Entscheidungswege für den Einsatz der Digitalisierung zu verändern, um sie damit in der Breite und nicht mehr als einzelne Pilotprojekte im Land auszurollen.

So verhindern wir nicht nur den schleichenden Blackout, sondern können auch mit anderen Herausforderungen besser umgehen: Fachkräftesicherung, Einwanderungsdynamik, Klimawandel und soziale Gerechtigkeit. Keines dieser Megathemen wird durch die Digitalisierung gelöst. Aber der Einsatz digitaler Lösungen hilft uns, besser mit ihnen umzugehen.

Ängste ernstnehmen und berücksichtigen

Zur Wahrheit gehört auch, dass sich Menschen durch die Digitalisierung gestresst fühlen. Die Umfragen der Initiative D 21 zeigen da ein deutliches Bild. Während der Anteil derjenigen sinkt, die meinen, von der Digitalisierung zu profitieren, stimmen immer mehr Menschen der Aussage zu, dass sie Digitalisierungsstress haben. Hier liegt eine große Aufgabe der Politik: Sie muss mit einer neuen Konfliktlinie umgehen und diese schließen. Der Gegensatz zwischen denjenigen, die Angst vor dem Wandel der Arbeitsgesellschaft haben und auf der anderen Seite die, die die Chancen betonen, darf nicht zu einer gesellschaftlichen Polarisierung führen. Mit Kompetenzschwerpunkten kann dies aus unserer Sicht vermieden und ins Positive gewendet werden.

Die schwierigen Abhängigkeiten von großen Tech-Unternehmen, denen wir sowohl im Privaten als auch in Wirtschaft und Gesellschaft ausgesetzt sind, müssen wir zudem zumindest abschwächen. Auch neue Wege der Regulierung können wir nur dann mit Nachdruck verfolgen, wenn unser staatliches Gemeinwesen auf Augenhöhe mit den „Big Tech“-Konzernen agieren kann. Dafür müssen wir unternehmerische Strukturen überprüfen und demokratisch einhegen, wie es Star-Ökonomen wie Daron Acemoglu fordern. Doch damit wir überhaupt nachhaltig darüber nachdenken können, müssen wir unsere Projekte zu einem guten Ende bringen und den Staat digital ausstatten, um das Vertrauen in die Digitalisierung zurückzugewinnen. Dafür brauchen wir eine Intensivierung unserer Eigenleistungsfähigkeit, denn auch die Abhängigkeit von Beratungsunternehmen hemmt unsere digitale Souveränität.

Europa in den Blick nehmen

Ein Blick ins europäische Ausland zeigt, wie wichtig die Bereitstellung einer elektronischen Identität ist, die durch ihre hohe Nutzenorientierung auch dazu führt, dass sie in Anspruch genommen wird. Wie schmal der Grat zwischen Serviceorientierung und Zwang zur digitalen Nutzung staatlicher Leistungen ist, wird deutlich, wenn man sich mit der dänischen Infrastruktur befasst. Gleichzeitig ist dieses Spannungsfeld auch in Deutschland aktuell bei der Frage, ob wir eine einheitliche Identifikationsnummer ermöglichen wollen. Deswegen plädieren wir für einen gestaltenden und abwägenden Weg der Digitalisierung: Tempo und Qualität schließen sich so nicht aus.

Digitalisierung zu gestalten, bietet aber auch die Chance, das Projekt Europa an entscheidender Stelle wieder mit Leben zu füllen. Natürlich stehen derzeit vor allem die sicherheitspolitischen Themen auf der Agenda. Wir müssen entschlossene Schritte gehen, Deutschland und Europa im Cyberraum sicher aufzustellen. Den zunehmenden Desinformationskampagnen in den sozialen Medien sollten wir mit großer Entschlossenheit mit einer europäischen Initiative begegnen, endlich selbst eine Plattforminfrastruktur bereit zu stellen. Hier liegt in vielen Bereichen der Weg, Souveränität zu schaffen. Der Staat als Bereitsteller von Plattforminfrastrukturen für viele Bereiche – Verwaltung, Information und Kommunikation – scheint die Resilienz-Antwort zu sein.

Dann profitiert die Gesellschaft von den digitalen Möglichkeiten und kann die negativen Tendenzen abfedern, die mit den Herausforderungen unserer Zeit einher gehen. Dafür braucht es eine Offensive zur digitalen Kompetenzgestaltung. Und wir brauchen die Kraft der Vielen. In den Verwaltungen, den Unternehmen und auch und gerade in der älteren Bevölkerung sind viele Menschen aktuell dabei die digitalen Möglichkeiten zur Gestaltung unserer Gesellschaft wahrzunehmen. Diese Gestaltungslust müssen wir nutzen für mehr und bessere Digitalisierung.


Dieser Beitrag basiert auf dem Buch „Schleichender Blackout. Wie wir das digitale Desaster verhindern“, das im Mai im Dietz Verlag erschienen ist.

Autor:innen

Fedor Ruhose

Policy Fellow
Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Rheinland-Pfalz.
Staatssekretärin a. D., Betriebswirtin, Unternehmerin, sie wurde als eine von „101 digitalen Köpfen NRW“ ausgezeichnet und arbeitete u. a. als Dozentin für Online und Mobile Strategien bei der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln.

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