DenkraumArbeit: Neue Ideen zur Arbeitswelt

Mit der Wiederentdeckung des Menschen und des Sozialen im wirtschaftlichen und technologischen Prozess bedarf es jetzt aber auch einer Neudefinition von Inhalt und Funktion des Konzepts der Flexibilität

Arbeitswelt 4.0, Auflösung traditioneller Arbeitsverhältnisse, Digitalisierung, Veränderung der Geschlechterrollen, Prekarisierung, Crowdworking – die Veränderungen in der Arbeitswelt sind unübersehbar. Viel wird darüber diskutiert, aber noch ist unklar, wie aus einer sozialpolitischen Perspektive mit diesem Umwälzungen umgegangen werden soll. Der DenkraumArbeit versucht hier neue Wege im Nachdenken über Lösungen zu gehen und macht konkrete Vorschläge, wie eine solidarische Politik für die Arbeitswelt in Zukunft aussehen könnte.

Fragen zur Arbeitswelt

Unsere Arbeitswelt wandelt sich beständig und rasant. Änderungen in der Arbeitsorganisation, technologische Innovationen, die Digitalisierung, aber auch das Bedürfnis, Arbeit und Privatleben besser miteinander vereinbaren zu können, erfordern neue politische Antworten. Zwar ist es schlichtweg unmöglich, präzise vorauszusagen, wie sich die Arbeitsgesellschaft in Zukunft entwickeln wird. Doch zentrale Fragen und langfristige Gestaltungsperspektiven schälen sich schon jetzt heraus:

  • Wie können wir trotz des Bevölkerungsrückgangs durch eine höhere Innovationskraft und Produktivität neue wirtschaftliche Prosperität erlangen?
  • Wie können wir die Frage nach der gerechten Verteilung individueller Verwirklichungschancen, ökologischer Ressourcen und ökonomischer Erträge wieder verstärkt in den Fokus rücken?
  • Wie lassen sich – auch digitale – Effizienzrenditen an die Gesellschaft und die Beschäftigten rückkoppeln?
  • Welche Chancen bestehen, der bisherigen Verdichtung von Arbeit und Leben die notwendigen Freiräume entgegenzusetzen?

Diese Fragen zielen auf den Kern der arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Richtungsentscheidungen für die nächsten Jahre. Antworten lassen sich mitnichten nur im Bewährten, Vergangenen oder Zeitgeistigen finden. Es bedarf vielmehr des Mutes zum Unfertigen, zum Experiment. Dies setzt Räume der Begegnung und des Strategischen voraus.

Raum zum freien Denken

Einen solchen Freiraum bietet in Deutschland seit Mai 2014 der DenkraumArbeit, der als ergebnisoffener und zugleich strukturierter Dialog- und Nachdenkprozess vom Progressiven Zentrum und der Friedrich-Ebert-Stiftung initiiert wurde. Über 100 Expertinnen und Experten haben nach einem intensiven eineinhalbjährigen Prozess erste Thesen entwickelt, die – sei es direkt oder online – breit diskutiert und weiter vertieft werden. Die 10 Müggelseer Thesen fassen die Kernideen und Forderungen des DenkraumArbeit zusammen. Erklärtes Ziel der Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ist es, die progressive Agenda nachhaltig zu beeinflussen und konkret auf die zukünftige Politikgestaltung einzuwirken. Im November 2015 wurde daher den thematisch zuständigen Ministerinnen Andrea Nahles (Arbeit und Soziales) und Manuela Schwesig (Familie, Senioren, Frauen und Jugend) ein umfassender Forderungs- und Maßnahmenkatalog öffentlich vorgestellt.

10 Punkte zur Arbeitswelt der Zukunft

Die 10 Thesen drehen sich rund um die vier Themen Arbeitszeitpolitik, Zukunft der Arbeit im digitalen Wandel, soziale Sicherung sowie Qualifizierung und Weiterbildung. DenkraumArbeit versteht sich aber nicht als reines Diskussionsforum, sondern hat den Anspruch, dass die formulierten Ansätze und Ideen auch Niederschlag in der Politik finden. Deswegen wurden die Thesen in konkret umsetzbare Maßnahmen und Instrumente gegossen und Umsetzungsmöglichkeiten aufgezeigt. Insbesondere umfasst dies:

  • einen gesetzlichen Anspruch auf Wahlarbeitszeit,
  • ein steuerliches oder beitragsabhängiges Bonussystem, wenn Betriebe für eine nachhaltige Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit sorgen,
  • ein Lebenschancenbudget in Form eines fiktiven Geldguthabens zur selbstbestimmten Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit (z.B. für Weiterbildung, Vereinbarkeit, Regenerationsphasen),
  • die Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung, die dabei hilft, biografische Übergängen im Erwerbsleben abzusichern,
  • Qualitätsverbesserung in der Weiterbildung, einerseits durch einen individuellen Rechtsanspruch auf Qualifizierungsberatung und Weiterbildung sowie die Entwicklung einer „Dachmarke Weiterbildung“, die eine transparente Weiterbildungsberatung ermöglicht, andererseits über die Gewährleistung „guter Arbeit“ in der Weiterbildungsbranche durch flächendeckende Mindeststandards,
  • die zielgenaue Förderung Arbeitssuchender und einen Umgang mit ihnen auf „Augenhöhe“, wofür auch eine bessere Ressourcenausstattung arbeitsmarktpolitischer und sozialer Dienstleistungen nötig ist,
  • eine steuerfinanzierte Mindestsicherung innerhalb der sozialen Sicherungssysteme, um die Schutzfunktion der sozialen Sicherungssysteme und ihre Bedeutung als soziale Investition und wirtschaftlicher Stabilisator (wieder) zu verbessern und die zukünftige Finanzierung des Sozialstaats auf eine breitere Grundlage zu stellen,
  • neue Mechanismen zur Finanzierung von Gemeinwohlaufgaben, denn wirtschaftliche Optimierungschancen sollten auch zu gesellschaftlichen Gewinnchancen werden.

Leitbild solidarische Flexibilität

Die zentralen Ansätze, wie sie in den Müggelseer Thesen zusammengefasst sind, haben als Leitbild die Idee der Solidarischen Flexibilität. In den letzten Jahren dominierte ein Verständnis von Flexibilität, das den Begriff auf eine marktwirtschaftliche Konkurrenzlogik und kurzfristige Vorteile verengte. Flexibilität ist nicht mehr etwas, was zwischen Menschen ausgehandelt werden muss, sondern wird zu einer scheinbar abstrakt vorgegebenen Kategorie.

Mit der Wiederentdeckung des Menschen und des Sozialen im wirtschaftlichen und technologischen Prozess bedarf es jetzt aber auch einer Neudefinition von Inhalt und Funktion des Konzepts der Flexibilität, um einer rein betriebswirtschaftlichen Betrachtung die Idee einer sozialen und solidarischen Flexibilität entgegenzustellen. Damit wird die Vielfalt von Bedarfen und Interessen anerkannt und respektiert.

Mehr noch: Es geht darum, Verfahren und Prozesse für einen fairen Ausgleich zwischen Unternehmen und Beschäftigten sowie verschiedenen Beschäftigtengruppen zu finden. Betriebliche Aushandlungen erfolgen auf Augenhöhe, und – wo geboten – stellen Rechtsansprüche und kollektive Normen den notwendigen Rahmen dar. Damit kommt auch den Sozialpartnern eine zentrale Rolle bei der Neugestaltung der solidarischen Flexibilität zu. Individuelle Förderung und soziale Absicherung verstehen sich dabei als Investition in eine ökonomisch wie gesellschaftlich nachhaltige und erfolgreiche Arbeitswelt der Zukunft. Deren Finanzierung ist daher konsequenterweise solidarisch aus staatlichen Mitteln und Versicherungsbeiträgen aufzubringen.

Die solidarische Flexibilität steht für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung, in der sich Leben und Arbeiten besser vereinen und den Bedürfnissen entsprechend gestalten lassen, mit der bunte Lebensläufe ermöglicht werden und durch die Menschen die Möglichkeit erhalten, Neues zu wagen. Sie wird damit zur notwendigen Voraussetzung für gesellschaftliche Innovation.

Unterschiedliche Interessen neu verhandeln

Wenngleich sich nicht alle Ansätze eins zu eins auf die österreichische Situation übertragen lassen, sind die vergleichbaren Herausforderungen und Reformbedarfe doch offensichtlich. Im Kern geht es darum, die vielen unterschiedlichen Interessen einer modernen Arbeitsgesellschaft zu verhandeln und in einen neuen Gesellschaftsvertrag – die solidarische Flexibilität – zu überführen.

Dazu gehören erstens die Bereitstellung individueller Entfaltungschancen durch Instrumente wie die Wahlarbeitszeit, ein unterstützendes Lebenschancenbudget zur selbstbestimmten Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit sowie ein individueller Rechtsanspruch auf Weiterbildung. Zweitens bedarf es zukunftsfähiger Unternehmen, die durch ein steuerliches oder beitragsabhängiges Bonussystem zu guten Arbeitsbedingungen angespornt werden. Dreh- und Angelpunkt solidarischer Flexibilität ist drittens ein aktiver Staat sowie viertens eine gestärkte Sozialpartnerschaft, die sich wechselseitig ergänzen.

Aktiver Staat

Der aktive Staat zeichnet sich dabei durch die Entwicklung universeller Sicherungssysteme, weitreichender Investitionen in Bildung, den Aufbau einer flächendeckenden und unabhängigen Weiterbildungsberatung sowie einer besseren Ressourcenausstattung arbeitsmarktpolitischer und sozialer Dienstleistungen aus und gibt auch auf dieser Basis gesellschaftliche Mindestnormen vor. Jenseits dieser Mindestnormen bleibt es vornehmliche Aufgabe der Sozialpartner, branchenspezifische und somit passgenaue Vereinbarungen zu treffen. In diesem Sinne bilden Mitbestimmung und Beteiligung als Quintessenz einer revitalisierten Sozialpartnerschaft die entscheidenden Rahmenbedingungen für die Umsetzung solidarischer Flexibilität in der betrieblichen Praxis.

Die vier Kernelemente einer solidarischen Flexibilität bieten zudem die optimale Ausgangsbasis, um auf die neuen migrationspolitischen Herausforderungen die richtigen Antworten zu finden. Der Erhalt und Ausbau von zukunftsfähigen Kompetenzen macht nicht nur aus heutigen Flüchtlingen die Arbeits- und Fachkräfte von morgen, sondern gibt den heutigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Zukunftsperspektiven, die sie und die Unternehmen brauchen. Der Zeitpunkt könnte also nicht besser sein, um sich – in Deutschland wie in Österreich – auf die Suche nach neuen Antworten auf die entscheidenden Zukunftsfragen unserer Zeit zu begeben.


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem blog.arbeit-wirtschaft.at.

Autorin

Dr. Ursula Bazant

Policy Fellow
Abteilungsleiterin im österreichischen Bundesministerin für Bildung. Zuvor u.a. politische Beraterin im Büro der Bundesministerin für Bildung und Frauen, im österreichischen Bundeskanzleramt in der Abteilung Arbeit, Wirtschaft und OECD-Angelegenheiten sowie an der Universität Münster am Lehrstuhl für Deutsche Politik.

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