Strukturförderung für die Braunkohle Regionen

Ein Nukleus für Industriepolitik

Über kaum ein Thema ist in den vergangenen Monaten so heftig gestritten worden wie über den Kohleausstieg und die ökonomische Zukunft der drei großen Braunkohlereviere.


Demnächst soll nun das Investitionsgesetz Kohleregionen verabschiedet werden. Es umfasst ein öffentliches Mittelvolumen von bis zu 40 Milliarden Euro bis ins Jahr 2038. Hiervon entfallen insgesamt bis zu 26 Milliarden Euro auf direkte Investitionen des Bundes in der Lausitz, dem Rheinischen und dem Mitteldeutschen Revier in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Verkehrsinfrastruktur und weiterer Förderprogramme. Bis zu 14 Milliarden Euro werden den Bundesländern NRW, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt als Finanzhilfen zur Verfügung gestellt, um die Strukturentwicklung der drei großen Braunkohlereviere zu unterstützen. Schließlich werden das Helmstädter Revier und Steinkohlestandorte mit weiteren 1,09 Milliarden Euro gefördert.


Dies ist ein Beitrag für den Blog „Progressives Regieren 2020plus“. In diesem setzen AutorInnen aus Wissenschaft, Wirtschaft und politischer Praxis Impulse für eine progressive Regierungsagenda ab 2020 und darüber hinaus. 


Dieses Fördervolumen – rund 2 Milliarden Euro jährlich über einen Zeitraum von 20 Jahren – Hinzu kommt, dass aufgrund des langen Zeithorizonts des Braunkohleausstiegs nur ein Teil dieser Beschäftigten direkt von einem individuellen Arbeitsplatzverlust und möglichen Umschulungserfordernissen betroffen sein wird. Viele der aktuell Beschäftigten werden ihr Arbeitsleben bis zum Eintritt in den Ruhestand in der Braunkohleindustrie verbringen können und der langfristige Beschäftigungsabbau kommt vor allem durch rückläufige Zuflüsse neuer Arbeitsverhältnisse zustande. 

Tabelle 1

Hinzu kommt, dass aufgrund des langen Zeithorizonts des Braunkohleausstiegs nur ein Teil dieser Beschäftigten direkt von einem individuellen Arbeitsplatzverlust und möglichen Umschulungserfordernissen betroffen sein wird. Viele der aktuell Beschäftigten werden ihr Arbeitsleben bis zum Eintritt in den Ruhestand in der Braunkohleindustrie verbringen können und der langfristige Beschäftigungsabbau kommt vor allem durch rückläufige Zuflüsse neuer Arbeitsverhältnisse zustande. 

Tabelle 2

Vor diesem Hintergrund sollte das Investitionsgesetz nicht als regionalpolitischer Notfallplan interpretiert werden. Ein komplettes Wegbrechen der industriellen Basis durch den Kohleausstieg ist in den drei Revieren ebenso wenig zu befürchten wie eine drohende Welle der Massenarbeitslosigkeit. Ein so erheblicher Einsatz öffentlicher Investitionsmittel wie im vorliegenden Gesetzentwurf (rund 200,000 Euro pro direkt betroffenem Arbeitsplatz) ist dann gerechtfertigt, wenn hiervon industriepolitische Impulse ausgehen, die über die Braunkohlereviere hinausgehen. 

Industriepolitische Herausforderungen

Bei der Entwicklung und Umsetzung neuer Technologien gehört Deutschland weiterhin international zur Spitzengruppe, wie der Global Competitiveness Report 2019 des World Economic Forum gerade kürzlich wieder bestätigt hat. Diese positive Momentaufnahme sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das deutsche Industriemodell unter großem Innovations- und Veränderungsdruck steht. 

Handlungsbedarf ergibt sich nicht bloß aus den Herausforderungen des Klimaschutzes, der eine weitaus stärkere Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Treibhausgasemissionen als bisher verlangt. Auch die Digitalisierung und die veränderten internationalen Marktkonstellationen (insbesondere die Systemkonkurrenz zu China und die Expansion des Silicon Valley in immer neue Geschäftsmodelle) erzeugen spürbaren Wettbewerbsdruck auf die Kernbereiche der deutschen Industrie. Exemplarisch sei hier die Unsicherheit darüber genannt, welchen Wertschöpfungsanteil Deutschland zukünftig in der Automobilindustrie für sich wird reklamieren können, wenn neue Antriebstechnologien und plattform- und KI-basierte Mobilitätsformen weiter an Bedeutung gewinnen.

Befürchtungen eines zunehmenden Bedeutungsverlusts der deutschen Industrie haben zu einer Reihe von wirtschaftspolitischen Initiativen geführt, etwa der KI-Strategie der Bundesregierung oder der „nationalen Industriestrategie“ von Bundesminister Peter Altmaier. Ihre Ziele bestehen darin, den deutschen Rückstand bei etlichen Zukunftstechnologien zu reduzieren und die Basis für Wohlstand und qualitativ hochwertige Industriearbeitsplätze auch über das Jahr 2030 hinaus zu legen.

„Im Kern geht es um die Schaffung von nachhaltigen Industriestrukturen und Arbeitsplätzen in Zukunftsbereichen durch umfangreiche Investitionen.“

Bislang wurden dafür aber bloß geringe Summen bereitgestellt. Die KI-Strategie wurde mit 3 Milliarden Euro ausgestattet, hiervon lediglich 500 Millionen zusätzliche Mittel. Im Rahmen der Industriestrategie sollen Konsortien für die Batteriezellfertigung mit 1 Milliarde Euro unterstützt werden. Diese Beträge wurden vielfach als deutlich zu gering kritisiert.

An dieser Stelle kann das vergleichsweise üppig ausgestattete Investitionsgesetz für Kohleregionen eine wichtige Lücke schließen. Zwar ist es räumlich auf die Braunkohlereviere festgelegt. Inhaltlich ist es aber komplementär zu den erwähnten Strategien. Im Kern geht es um die Schaffung von nachhaltigen Industriestrukturen und Arbeitsplätzen in Zukunftsbereichen (mit einem besonderen Fokus auf „grüne“ Technologien) durch umfangreiche Investitionen. Dies ist der richtige Ansatz für eine zukunftsweisende Modernisierungsstrategie der deutschen Volkswirtschaft, der prinzipiell in ganz Deutschland notwendig wäre. Diese Chancen müssen aber auch genutzt werden – durch eine richtige Umsetzung der Strukturpolitik.

Strukturpolitik in den Kohleregionen als industriepolitischer Nukleus 

Der Gesetzentwurf wird in den Medien häufig so dargestellt, als ginge  es dabei ausschließlich um die Kompensation der Regionen für den Wegfall der Braunkohle als wichtigem lokalem Wirtschaftszweig. Dieser Aspekt ist aber quantitativ, wie oben gezeigt, eigentlich gar nicht so vordringlich, da die Zahl der betroffenen Arbeitsplätze selbst innerhalb der Reviere nicht mehr allzu groß ist. In Wirklichkeit geht es bei der gezielten Förderung der Kohlereviere um etwas anderes: Nämlich darum, einen Nukleus für eine gesamtwirtschaftliche Strategie des Strukturwandels und der ökonomisch-ökologischen Transformation zu schaffen. Ansonsten wäre die finanzielle Größenordnung der Maßnahmenpakete bei weitem überzogen.

Die Strukturförderung der Kohleregionen sollte als Grundstein für eine breit angelegte „grüne Industriepolitik“ begriffen und ausgestaltet werden.

Die Strukturförderung der Kohleregionen sollte als Grundstein für eine breit angelegte „grüne Industriepolitik“ begriffen und ausgestaltet werden. Das wesentliche Ziel muss darin bestehen, in den Regionen nachhaltige Industriestrukturen bei modernen Umwelttechnologien aufzubauen. Diese Wirtschaftszweige (z.B. Energiespeicherung, Wasserstoff, Power-to-X usw.) müssen mittelfristig nicht nur den Wertschöpfungskern der regionalen Industrie bilden, sondern als Inkubator für die deutsche Industrie insgesamt dienen und international wettbewerbsfähige Produkte und Verfahren hervorbringen. Die immense Investitionsförderung in Höhe von 40 Milliarden Euro kann hierfür einen entscheidenden Grundstein legen. Aber dieses Geld muss dafür effizient und zielführend eingesetzt werden.

„Hieraus folgt, dass das Investitionsgesetz keinesfalls als Aufstockung herkömmlicher regionalpolitischer Fördermaßnahmen wahrgenommen werden darf.“

Hieraus folgt, dass das Investitionsgesetz keinesfalls als Aufstockung herkömmlicher regionalpolitischer Fördermaßnahmen wahrgenommen werden darf. Mit den Mitteln sollten keinesfalls kleinteilige Projekte finanziert werden, wie man sie in der GRW, bei EFRE oder ELER vorfindet. Auf eine intra-regionale Verteilung nach Lokalproporz muss verzichtet werden. Lokale öffentliche Konsumgüter (z.B. Radwege oder Schwimmbäder) sollten nur in wohl begründeten Ausnahmefällen berücksichtigt werden, wenn sie deutlich in eine industriepolitische Gesamtstrategie für die Region eingebettet sind. Leider ging der Abschlussbericht der Kohlekommission diesbezüglich in eine falsche Richtung, denn er umfasste im Anhang ein Sammelsurium von Kleinprojekten ohne erkennbaren strategischen Wert für eine flächendeckende, nachhaltige Investitionspolitik.

Die Leitbilder der drei großen Reviere

Die für die Braunkohlereviere zuständigen Landesregierungen sollten Leitbilder mit dem Ziel einer in sich geschlossenen Strategie vorlegen. Hier müssen industriepolitische Visionen entwickelt werden: wohin sollen sich die Braunkohlereviere entwickeln? Solche Pläne können nicht in Berlin erdacht und dann den Regionen „von oben“ übergestülpt werden. Sie können aber auch nicht bloß „von unten“, also von der lokalen Ebene kommen, denn dann fehlt die industriepolitische Koordination. Die Landesebene ist also die richtige Ebene, um diesen Prozess zu organisieren.

Derzeit setzt die Lausitz vornehmlich auf die Bereiche Energiewirtschaft, Sektor-Kopplung und Power-to-X, das Rheinische Revier sieht seinen zukünftigen Schwerpunkt in den Bereichen Energieversorgung und Ressourcensicherheit und das Mitteldeutsche Revier nennt insbesondere die chemische Industrie und den Logistikbereich. Es ist gut und richtig, dass diese industriellen Schwerpunkte auf bestehenden Industriestrukturen und Kompetenzen der Regionen aufbauen.

Konkret soll hierfür, insbesondere in den ostdeutschen Regionen, ein Fokus auf die Verkehrsinfrastruktur und die Anbindung an die nahe gelegenen urbanen Zentren Berlin, Leipzig und Dresden gelegt werden. Außerdem wird ein klarer Schwerpunkt auf der gezielten Ansiedlung und Förderung von Forschungsinstituten vor Ort sowie dem Ausbau der digitalen Infrastruktur (z.B. 5-G Netz) definiert. Diese Maßnahmen sind folgerichtig und begrüßenswert. Sie reichen für die Umsetzung einer erfolgreichen und nachhaltigen industriepolitischen Strategie aber nicht aus.

„Hierbei liegt die Rolle des Staates nämlich nicht nur in der Bereitstellung einer exzellenten Verkehrs-, Digital- und Wissensinfrastruktur als notwendige Bedingungen für Grundlagenforschung. Darüber hinaus muss es ein funktionierendes Zusammenspiel mit der anwendungsbezogenen Forschung und der Produktion geben.“

Hierbei liegt die Rolle des Staates nämlich nicht nur in der Bereitstellung einer exzellenten Verkehrs-, Digital- und Wissensinfrastruktur als notwendige Bedingungen für Grundlagenforschung. Darüber hinaus muss es ein funktionierendes Zusammenspiel mit der anwendungsbezogenen Forschung und der Produktion geben. Neue Produkte und Verfahren dürfen nicht nur als Prototyp entwickelt, sondern müssen auch umgesetzt und skaliert werden. Hierfür ist es erforderlich, dass der Staat gerade in der Frühphase der Entwicklung Planungssicherheit für die Akteure der Privatwirtschaft schafft. Dies kann durch nachfrageseitige Instrumente wie Abnahmegarantien oder durch angebotsseitige Instrumente wie Subventionen oder Sonder-AfA geschehen.

Entscheidend ist, dass der Staat bei unsicheren Innovationen einen längeren Atem haben kann als relativ kurzfristig orientierte private Investoren und Risikokapitalgeber, die unmittelbare Renditen verlangen. So können neue Geschäftsmodelle mit einer initialen Verlustphase über einen kritischen Punkt gehoben werden. Für eine zielführende Umsetzung bedarf es auf Seiten der industriepolitischen Akteure also eines gewissen Durchhaltevermögens, allerdings auch der notwendigen Distanz, um aus gescheiterten Projekten so rechtzeitig wieder auszusteigen, dass kein übermäßiger Schaden für die SteuerzahlerInnen entsteht.

Dieser wesentliche Aspekt einer industriepolitischen Strategie ist notwendig, wenn der anvisierte Strukturwandel erfolgreich sein soll. Die regionalen Leitbilder müssen also im Sinne einer langfristigen industriepolitischen Strategie formuliert werden. Die zu entwickelnden Industriebereiche müssen dabei klar und ohne Rücksicht auf intra-regionale Befindlichkeiten definiert werden. Dabei muss von Seiten des Staates lediglich das Entwicklungsziel definiert werden (z.B. emissionsneutrale Energieerzeugung), aber nicht der detaillierte technologische Weg dorthin.

Der eingeschlagene Fokus auf Infrastrukturinvestitionen und F&E-Förderung ist zunächst richtig, aber er muss durch nachfrage- und angebotsseitige industriepolitische Instrumente flankiert werden. Hierfür ist ein hinreichend großes Mittelvolumen zu reservieren. Nur so kann es gelingen, dass die Kohlereviere einen Vorbildcharakter für andere Regionen in Deutschland und Europa übernehmen und letztlich den Grundstein für die technologische Modernisierung der gesamten deutschen Industrie legen.

Top-down oder bottom-up? Die Antwort: Beides

Das vorliegende Investitionsgesetz ist kein Ersatz für eine unzureichende finanzielle Grundausstattung der Kommunen. Eine Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen und eine angemessene Ausstattung der Kommunen ist eine wichtige Aufgabe, die dringend in Angriff genommen werden muss. Die Städte und Gemeinden müssen insgesamt finanziell gestärkt werden. Nur so kann wieder sinnvolle Kommunalpolitik jenseits der Mangelverwaltung betrieben werden. Politische Entscheidungskompetenz und eine finanzielle „freie Spitze“ gehört an die Basis – in die Hände der politisch Verantwortlichen vor Ort. Das ist auch das probateste Mittel gegen Populismus, wenn die Menschen in abgehängten Regionen sehen, dass der Staat in der Fläche präsent ist und nach den Wünschen der BürgerInnen agiert.

„Die jetzt zu verteilenden 40 Milliarden Euro dienen also nicht zur Aufstockung oder zur Nachholung zuvor unterlassener kommunalpolitischer Projekte. Sie müssen als Nukleus für eine gesamtwirtschaftliche industriepolitische Strategie interpretiert werden.“

Aber so richtig das ist – das hat nichts mit dem Strukturwandel der Braunkohlereviere zu tun. Diese beiden Aufgaben müssen auseinandergehalten werden. Die jetzt zu verteilenden 40 Milliarden Euro dienen also nicht zur Aufstockung oder zur Nachholung zuvor unterlassener kommunalpolitischer Projekte. Sie müssen als Nukleus für eine gesamtwirtschaftliche industriepolitische Strategie interpretiert werden. Und die kann nicht alleine „von unten“ kommen. Hier ist eine gewisse politische Führung „von oben“ seitens des Bundes und der Länder unverzichtbar.

Abschließend ist zum gesamten Prozess des Kohleausstiegs kritisch anzumerken, dass offenbar keine Stilllegung von CO2-Zertifikaten im Rahmen des EU-ETS geplant ist, der sich im Umfang an den erzielten Reduktionserfolgen bei den Treibhausgasemissionen orientiert. Wird die Stilllegung der Zertifikate aber unterlassen, droht ein sog. „Wasserbett-Effekt“: die deutsche Nachfrage nach Zertifikaten sinkt, das EU-weite Angebot bleibt aber konstant. Es ist also mit einem fallenden Gleichgewichtspreis zu rechnen und die freien Zertifikate können von anderen Akteuren innerhalb des EU-ETS absorbiert werden, zum Beispiel von polnischen Kohlekraftwerken. Auf europäischer Ebene findet durch den deutschen Braunkohleausstieg dann aber effektiv keine Senkung der Treibhausgasemissionen statt. Es wäre daher dringend geboten, wenn diese Stilllegung von Zertifikaten im Rahmen des Kohleausstiegs mitgedacht würde.

Autor

Prof. Dr. Jens Südekum

Wissenschaftlicher Beirat
Jens Südekum ist Universitätsprofessor für internationale Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.

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