Progressive Religionspolitik

Wer eine Gesellschaft in Vielfalt gestalten will, der sollte einen Blick darauf haben, dass Menschen unterschiedlicher Religionen sich begegnen und religiöse Institutionen sich zunehmend öffnen

Zu den heiklen Themen unserer Zeit gehört zweifellos die gesellschaftliche Verortung der Religion. Ein Gewinnerthema sieht auf den ersten Blick anders aus. Und dennoch sollten gerade progressive Kräfte Antworten auf die Frage suchen: Wie weiter mit der Religion?

In der vergangenen Woche stellte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration sein Jahresgutachten 2016 vor: Viele Götter, ein Staat: Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland. Mit der wachsenden religiösen Pluralität spricht der Rat eine der gesellschaftlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik an. Dabei befürwortet das Gutachten die Grundzüge deutscher Religionspolitik und mit ihnen die voranschreitende institutionelle Integration des Islam in das bundesdeutsche Religionssystem.

Was fehlt, ist eine substanzielle Auseinandersetzung mit einer Alternative zu dieser Religionspolitik. Denn progressive Religionspolitik heißt nicht zwangsläufig, Religion zu fördern, sondern zuvorderst, sie in der Gesellschaft zu verorten. Dass das Gutachten Alternativen ausklammert, ist nachvollziehbar – zugleich jedoch auch symptomatisch für die bundesdeutsche Debatte.

Die fehlende religionspolitische Debatte in Deutschland

Worum geht es? In der Bundesrepublik hat sich historisch eine „positive Neutralität“ des Staates gegenüber den Religionen herausgebildet. Der deutsche Staat akzeptiert grundsätzlich Religion in Form von Symbolen, Praktiken oder Inhalten im öffentlichen Raum. So finden sich Kruzifixe in Klassenzimmern und christlich-theologische Institute an staatlichen Universitäten. Diese Offenheit gilt unabhängig von der spezifischen Glaubensrichtung. Doch betraf sie lange Zeit praktisch nur die beiden großen christlichen Religionsgemeinschaften und das Judentum.

Waren zur Zeit der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahr 1949 noch etwa 95 Prozent der Westdeutschen konfessionell an eine der beiden christlichen Kirchen gebunden, sind es heute nur mehr 65 Prozent – in Ostdeutschland unter 25 Prozent. Parallel zu dieser Entwicklung findet seit den 1970er Jahren eine Pluralisierung der deutschen Religionslandschaft statt, die maßgeblich durch den steigenden Anteil „eingewanderter“ Religionen geprägt ist. Zuletzt hat der deutsche Staat den Willen bewiesen, beispielsweise den Islam in das deutsche Religionssystem zu integrieren – der islamische Religionsunterricht in einigen Ländern und die Öffnung für eine muslimische Seelsorge in Gefängnissen sind Beispiele hierfür. Das ist im bestehenden System der positiven Neutralität zweifellos der richtige Weg, denn die Privilegien der Kirchen müssen hier für alle Religionen offen sein. Was jedoch fehlt, ist die Systemfrage.

Die Alternative zur positiven Neutralität

Unumstritten ist unter Expertinnen und Experten, dass der aktuelle Weg der positiven Neutralität keineswegs alternativlos ist. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem ersten Kopftuchurteil im Jahr 2003 zwei verfassungskonforme Wege für den Umgang mit der zunehmenden Pluralität eröffnet: Einerseits sei es möglich, die zunehmende religiöse Vielfalt auch im öffentlichen Raum abzubilden, was der positiven Neutralität entspricht. Alternativ könne jedoch der Grundsatz der Neutralität noch ernster genommen werden, was eine deutliche Distanzierung des Staates von den Religionen zur Folge hätte. Frankreichs Laizität könnte hier als Vorbild dienen.

Eine solche bundespolitische Debatte über eine Neuausrichtung des Verhältnisses von Staat und Religion ist gänzlich ausgeblieben. Stattdessen erfolgten mediale und öffentliche Auseinandersetzungen erstens vor allem lokal, zweitens meist als Reaktion auf gerichtliche Auseinandersetzungen und drittens oft genug als skandalisierte Äußerungen auf berechtigte muslimische Forderungen.

Zweifellos sind viele Entscheidungen auf Landesebene zu treffen. Dennoch ist es Aufgabe der bundespolitischen Parteien, die Rolle der Religionen im 21. Jahrhundert in unserem Staat nicht als gegeben hinzunehmen. Es geht darum, zu fragen, ob der historisch eingeschlagene Weg angesichts der aktuellen Entwicklungen überhaupt tragfähig und von der Bevölkerung (noch) gewollt ist.

Die offene Flanke der Union

Unstrittig aus progressiver Sicht ist, dass jede Religion zu diesem Land gehört, die von hier lebenden Menschen praktiziert und gelebt wird. Solange diese im Einklang mit unserer Verfassung ist, kann das die einzige progressive Sicht auf die Religion im Privaten sein. Die verfassungsrechtlichen Grenzen einer Debatte über Religion im öffentlichen Raum und das Verhältnis von Staat zu Religion sind auch klar abgesteckt: Der Staat ist neutral, Regeln müssen für alle Religionsgemeinschaften gleichermaßen gelten.

Eine Debatte über deren konkrete Ausgestaltung mag uns am Ende dorthin zurückführen, wo wir jetzt stehen. Wenn wir die besondere Stellung der christlichen Kirchen erhalten wollen, muss uns klar sein, dass diese auch tendenziell allen anderen Religionsgemeinschaften zusteht. Ausgerichtet an unserem aktuellen Umgang mit der katholischen und protestantischen Kirche bedeutet das möglicherweise Religionsunterricht in staatlichen Schulen anzubieten, Ausnahmen vom staatlichen Diskriminierungsverbot im Arbeitsrecht zugestanden zu bekommen, Kirchensteuer über das Finanzamt einziehen zu lassen ‑ um nur einige prägnante Beispiele zu nennen.

Entscheiden wir uns als Gesellschaft für eine striktere Trennung von Religion und Staat, hätte das vor allem eine Entmachtung der großen Kirchen zur Folge. Und genau hier liegt das politische Problem.

So verwundert es nicht, dass die Union die institutionelle Integration des Islam derart vorangetrieben hat und dabei ihre altbekannte Rhetorik der Alternativlosigkeit fährt. Die Union kann aus strategischen Gründen unmöglich den zweiten Weg gehen und bestehende Privilegien der Kirchen infrage stellen. Mit ihrer Politik findet sie mächtige Partner in den Kirchen, deren herausgehobene Rolle durch die Stärkung anderer Religionen nicht grundsätzlich infrage gestellt wird. Genau hier liegt der Ansatzpunkt für eine progressive Religionspolitik – und ein mögliches Abgrenzungsmerkmal gegenüber der Union.

Über Religion sollten nicht nur Religiöse sprechen

Doch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) ist auffällig stumm, was die Bedeutung der Religion im Staat betrifft. Die explizite Öffnung der Partei hin zu den christlichen Kirchen im Rahmen des Godesberger Programms von 1959 trug auch dazu bei, sie bundesweit mehrheitsfähig zu machen. Und zweifellos verschaffte die wachsende Zusammenarbeit mit den Kirchen ihr wichtige Wählerstimmen.

Doch während die Zahl der Konfessionslosen seit den 1970er Jahren stetig steigt, scheint die SPD in dieser historischen Erfahrung zu verharren. Dabei greift die schnell bemühte Warnung vor dem Verlust von Wählerstimmen im Zuge einer offenen Debatte zu kurz. Denn zunächst muss die bloße Mitgliedschaft in einer Kirche nicht zwangsläufig zu einer Verschlossenheit beim Einzelnen führen, über eine Neuausrichtung von Religion im Staat zu sprechen. Darüber hinaus sollte eine solche Debatte keinesfalls auf eine Polarisierung zwischen „Gläubigen“ und „Ungläubigen“ abzielen – religiöse Gefühle müssen im Rahmen des Grundgesetzes respektiert werden. Niemand verlangt, dass die SPD in die Zeit vor dem Godesberger Programm zurückverfällt.

Doch ist es Aufgabe einer vorwärtsgewandten SPD, der wachsenden Anzahl an Konfessionslosen Raum in der Debatte zu verschaffen. Eine gleichberechtigte Teilhabe aller Gruppen im Staat muss auch hier Ausgangspunkt ihrer Politik sein. Die Angst vor dem Verlust bestimmter Wählerkreise oder eine in die Vergangenheit gerichtete Legitimation bestehender Verhältnisse darf die SPD nicht sprechunfähig machen mit Blick auf einen fortschrittlichen Umgang mit Religion.

Das Narrativ progressiver Religionspolitik

Mit dem Abschlussbericht der Kommission Weltanschauung, Religionsgemeinschaft und Staat aus dem März dieses Jahres haben BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erste wichtige Schritte genommen auf dem Weg hin zu einer progressiven Religionspolitik. Die sowohl mit Religiösen als auch Säkularen besetzte Kommission ermöglichte eine innerparteiliche Diskussion, deren Ergebnisse im Herbst 2016 auf der größeren Bühne auch von den Bundesdelegierten diskutiert werden sollen.

Inhaltlich zeigen die Positionen der Grünen, dass auf dem Weg zu einem gleichberechtigten Umgang auch bestehende Privilegien der kirchlichen Religionen zu prüfen und womöglich auch zu beschneiden sind.

Genau hier muss eine progressive Religionspolitik ansetzten. Sie spricht Religionsgemeinschaften nicht schlankerhand und „weil es immer so war“ Privilegien zu. Dass die Zahl der Konfessionslosen steigt, heißt nicht, dass Religion keinerlei Unterstützung mehr verdient hat. Aber es heißt, dass erstere ihren Platz in der öffentlichen und auch innerparteilichen Diskussion haben müssen. Dass Religionsgemeinschaften per se förderungswürdiger sein sollen als andere weltanschauliche oder zivilgesellschaftliche Vereinigungen, kann nicht als Diktum für die Zukunft feststehen.

Zuletzt kann es nicht im Sinne progressiver Kräfte sein, dass sich unsere Gesellschaft zunehmend entlang religiöser Zugehörigkeiten ausdifferenziert. Wer eine Gesellschaft in Vielfalt gestalten will, der sollte einen Blick darauf haben, dass Menschen unterschiedlicher Religionen sich begegnen und religiöse Institutionen sich zunehmend öffnen. Wer mit Willy Brandt auf der Höhe der Zeit sein möchte, muss verstehen, dass auch progressive Religionspolitik immer vor dem Hintergrund der aktuellen Gesellschaft ausgestaltet werden muss. Und die ist heute eine andere als 1949.


Der Text gibt ausschließlich die persönliche Auffassung der Autorin und des Autors wieder.

Autor:innen

Lucie Kretschmer

Visiting Fellow
Lucie Kretschmer promoviert an der Humboldt-Universität zu Berlin zu muslimischen Forderungen vor dem Bundesverfassungsgericht und ist Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung.
Marius Mühlhausen ist Sozialwissenschaftler und Referent für Grundsatzfragen bei einem Bundesverband in Berlin.

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