„Neue Strukturpolitik statt Kommissions-Klimbim“

Vier Vorschläge für eine bessere Heimatpolitik

Die Große Koalition sollte – so sie den Winter „überlebt“ – in ihrer zweiten Halbzeit die Leerstellen aus der Kommissionsarbeit für „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ in ein kraftvolles neues Angebot für eine veränderte Regional- und Strukturpolitik umwandeln. In angespannten Zeiten könnte so nach Einschätzung der beiden Autoren die wirtschaftliche Binnenentwicklung in Deutschland wirksam angekurbelt werden. Mit neuen identitätsstiftenden Politikangeboten in den betroffenen Regionen könnte zudem das Vertrauen in die bewährten demokratischen Institutionen wirksam zurückgewonnen werden.

Bei folgendem Text handelt es sich um die Langfassung eines Artikels, der am 31. Oktober 2019 als gekürzter Gastbeitrag in der Print- und Online-Ausgabe der WELT erschienen ist. Gedanklich knüpft der Beitrag zudem an einen Gastbeitrag an, den die beiden Autoren Anfang März 2019 im Handelsblatt veröffentlicht haben.


Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Land ist eines der zentralen Ziele der Bundespolitik. Auch die Große Koalition hat sich dies im Koalitionsvertrag groß auf ihre Fahnen geschrieben. Und auf Drängen der CSU sogar ein eigenes „Heimat-Ministerium“ gegründet. In der Generaldebatte zum Bundeshaushalt hat die Bundeskanzlerin nach der Sommerpause die herausragende Bedeutung einer mutigen Regionalpolitik erneut hervorgehoben – und dabei die Ambitionslosigkeit ihrer eigens eingerichteten Kommission für „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ unerwähnt gelassen.

In der Kommission für „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ sollten Bund, Länder und Kommunen zueinander finden und gemeinsam Lösungen dafür erarbeiten, wie sich politische Rahmenbedingungen in Regionen ändern müssen, die besonders von Strukturwandel, Globalisierung und Demografie betroffen sind. Dies ist grundstätzlich zu begrüßen, denn der Handlungsbedarf ist in der Tat groß: regionale Ungleichheiten haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten drastisch verschärft und bedrohen wirtschaftlichen Fortschritt, sozialen Zusammenhalt und politische Stabilität. Zu Recht hat etwa der renommierte Regionalökonom Jens Südekum darauf hingewiesen, dass mehr als die Hälfte der ländlichen Bevölkerung immobil ist und jeder Wegzug gut qualifizierter Menschen die strukturschwachen Regionen besonders hart trifft.

Vor dem Hintergrund der Bedeutung des Themas und dringenden Notwendigkeit zum politischen Handeln ist das Ergebnis der Kommission ernüchternd. Denn den Beteiligten von Bund, Ländern und Kommunen gelang es in dieser Kommission nicht, ihre Interessenunterschiede zu überbrücken. Statt einem konkreten, zwischen den Ebenen abgestimmten Aktionsprogramm mit klaren zeitlichen Vorgaben konnte sich lediglich auf ein Bündel von Einzelmaßnahmen geeinigt werden. In wichtigen Bereichen wie der Übernahme von Altschulden durch den Bund stehen Absichtserklärungen am Ende des Prozesses. Auf einen exakten Zeitplan konnte man sich nicht verständigen, aber immerhin will der Bund nun weiter mit Kommunen und Ländern verhandeln.

Zugespitzt lässt sich schlussfolgern: Über Heimatrhetorik und Kommissions-Klimblim hinaus wurde bisher nicht viel erreicht. Die Chance zur beteiligungsorientierten Strategieentwicklung über die bundesstaatlichen Ebenen hinweg wurde nur unzureichend genutzt. Das ist aus mindestens zwei Gründen bedauerlich. Einerseits zeigt sich, dass das Vertrauen in die Politik in Deutschland vor allem aufgrund enttäuschter Erwartungen in politische Institutionen und Akteure erodiert. Eine empirische Studie des Progressiven Zentrums zu strukturschwachen Regionen in Deutschland und Frankreich aus dem Jahre 2018 gibt einen Hinweis darauf, wo die Hauptfokus der Kommission hätte liegen müssen. Regelmäßig bemängeln die Menschen dort, dass die Probleme ihres Alltags in der politischen Diskussion keine Rolle zu spielen scheint. Dabei verweisen sie immer wieder auf den Wegfall der sozialen Infrastruktur vor Ort. Zum Anderen trüben sich derzeit aufgrund der Weltkonjunktur die ökonomischen Kennzahlen ein – mit Folgen besonders für die ostdeutschen Regionen. Eine schwungvolle, am Prinzip der Nachhaltigkeit orientierte Regional- und Strukturpolitik, wie sie beispielsweise die Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato vorschlägt, könnte gerade jetzt einen wertvollen Beitrag dazu liefern, Deutschlands wirtschaftliche Stärke durch Investitionen in Forschung, Bildung und Infrastruktur zu erneuern.

Und so wäre in der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen und sozio-ökonomischen Lage ein konzertierter, ambitionierter und vorwärtsweisender Aufschlag im Sinne einer neuen und partizipationsorientierte Regionalpolitik dringend geboten. Statt eine Liste von Einzelmaßnahmen zusammenzustellen, sollte der Bund nun systematischer vorgehen und auf eine wirkungsvolle politische Strategie hinwirken. Wir schlagen in vier Punkten einen differenzierten Ansatz und ein neu strukturiertes Verfahren vor – mit deutlich mehr Ressourcen, mehr Beteiligung und mehr Abstimmung der einzelnen Ebenen:

  1. Eine neue Strategie für die Bereitstellung von Finanzmitteln sowie eine Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Daseinsvorsorge“ entwickeln, wie sie zum Beispiel die Friedrich-Ebert-Stiftung vorgelegt hat. Diese könnte auf der einen Seite die materielle Daseinsvorsorge finanziell sicherstellen. Auf der anderen Seite geht es darum, lokale Beteiligungsprozesse zu ermöglichen. Hierbei wäre es wichtig, die regionale Verteilung der zusätzlichen Mittel klar festzulegen und somit regionale Ungleichgewichte abzubauen. Dafür müssen gemeinsam regionale Schwerpunkte im ganzen Land definiert und eine verbindliche Abstimmung unter den Regionen organisiert werden. Generell bedarf es auf der Bundesebene eines Umdenkens bei der Bereitstellung von Finanzmitteln. Damit gleichwertige Lebensverhältnisse hergestellt werden können, müssen Mittel verfügbar gemacht werden. Wenn die Schuldenbremse als Instrument (derzeit) nicht geöffnet werden kann, benötigt man andere Wege, um die öffentliche Hand zu stärken. Dafür muss sich die Politik vom „Klein-Klein“ verabschieden. Zusätzliche fiskalische Perspektiven dürfen aber auch nicht aufgrund eines regionalen „Kirchturm-Denkens“ verpuffen. Feststeht: Die finanziell angespannte Lage einzelner Kommunen könnte die Bundesregierung zunächst einmal durch einen Altschuldenfonds lösen.
  2. Einen „Versorgungskonsens“ als verpflichtende Abmachung zwischen Bund, Länder und Kommunen schaffen. Es geht jetzt darum, Entwicklungsperspektiven für Regionen zu schaffen, die sich im Wettbewerb nicht von selbst behaupten können. Bei der Versorgung mit medizinischen und pflegerischen Angeboten oder Breitband bietet sich ein Versorgungskonsens als verpflichtende Abmachung zwischen Bund, Länder und Kommunen an. Wenn nun bei den Kommunalfinanzen Hilfe in Aussicht gestellt, zugleich aber angekündigt wird, dass generell nicht mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stehen und in Zukunft auch keine Verschuldung über Kassenkredite mehr stattfinden darf, dann zeigt sich, wie weit entfernt wir von solch einem Versorgungskonsens noch sind. Die vom Strukturwandel betroffenen Kommunen leiden, wie der Wirtschaftsweise Achim Truger zu Recht feststellt, nicht darunter, dass sie zu viele Schwimmbäder gebaut haben. Digitalisierung und mobile Angebote müssen so verzahnt werden, dass jeder und jede Einzelne Zugänge mit überschaubarem Aufwand erreichen kann.
  1. Den alten Grundsatz der Regionalentwicklung „people to jobs“ umdrehen. Das Prinzip „Jobs to people” ist für strukturschwache Regionen zentral. Dass beispielsweise vermehrt die Verlagerung von Behörden in ländliche Regionen diskutiert wird, weist in die richtige Richtung. Dafür muss auf der Angebotsseite überall in Deutschland zugleich die Anbindung an Infrastruktur, Forschung, Entwicklung, Digitalisierung und Mobilfunk gewährleistet werden. Warum nicht diese wichtigen Investitionen bei der Regulierung der großen Anbieter berücksichtigen? Hier ließen sich mit aktiver Industriepolitik schnell und effektiv zukunftsrelevante Weichen stellen. Wenn die digitale Anbindung stimmt, können neue Ideen und Start-Ups ihre Durchsetzung am Markt auch aus strukturell schwächeren Regionen heraus starten. In Anlehnung an die Förderung der Spitzenuniversitäten sollte über ein Stärkungsprogramm für Universitäten und Hochschulen in ländlichen Regionen nachgedacht werden. Dies schafft die besten Bleibeperspektiven für junge Menschen.
  2. Den Trend zur Heimatpolitik nicht den Populisten überlassen. Politik muss zeigen, dass sie den negativen Folgen des Strukturwandels vor Ort etwas Wirksames entgegensetzen kann – und will. Mit neuen identitätsstiftenden Politikangeboten in den betroffenen Regionen könnte zudem das Vertrauen in die bewährten demokratischen Institutionen wirksam zurückgewonnen werden. Neben gezielter Strukturentwicklung werden Lokallabore, Heimatbeiräte oder Investitionsforen, in denen beispielsweise ausgewählte Bürger konkrete Vorschläge für den Einsatz öffentlicher Investitionen erarbeiten, immer wichtiger. Der Bund stellt die notwendigen Mittel für derartige politische Dialog- und Beteiligungsformate zur Verfügung – die Länder und die Kommunen arbeiten gemeinsam mit den Bürgern an den Erfordernissen vor Ort. Die dafür nötige Koordinierung könnte die von der Bundesregierung geplante „Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt“ übernehmen.

Autoren

Dominic Schwickert

Geschäftsführer des Progressiven Zentrums
Dominic Schwickert ist seit Ende 2012 Geschäftsführer des Progressiven Zentrums. Er hat langjährige Erfahrung in der Politik- und Strategieberatung (u.a. Stiftung Wissenschaft und Politik, Bertelsmann Stiftung, IFOK GmbH, Stiftung Neue Verantwortung, Deutscher Bundestag, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie).

Fedor Ruhose

Policy Fellow
Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Rheinland-Pfalz.

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