Markenkern Emanzipation

Parteistrategen legen der SPD ans Herz, auf die arrivierte und privilegierte Gesellschaftsmitte zu setzen. Doch damit würde die Partei ihre historische Aufgabe verfehlen. Diese kann sie nur erfüllen, wenn sie nicht weiter in die Parvenü-Falle tappt.

Die deutsche Sprache hält eine semantische Unterscheidung bereit, um die wir uns in der Regel nicht scheren: jene zwischen „dasselbe“ und „das Gleiche“. Gedankenlos verwenden wir beide Begriffe meist synonym. Doch wird es einmal ernst, stößt diese Beliebigkeit an ihre Grenzen: Derselbe Fisch von vergangener Woche duftet doch anders als der gleiche.

Auch in der krisengeplagten Sozialdemokratie prüft man derzeit, was noch brauchbar ist und was aussortiert werden kann. Zu klären ist, wer (noch) die Wähler der SPD sind, und wer nicht mehr; auf wen man hoffen kann, und wen man besser abschreiben sollte, um die schwindenden Kräfte bei der Wähleransprache optimal zu bündeln. Zahlreiche Analysen gelangen dabei – verkürzt – zu folgendem Fazit: Die verbleibenden SPD-Potenziale in der Gesellschaft sind noch dieselben, aber nicht mehr die gleichen wie früher. Die Analyse geht in etwa wie folgt:

Einerseits konnten die Profiteure der Bildungs- und Sozialexpansion früherer Jahrzehnte aufsteigen. Sie haben sich akademisiert und verbürgerlicht, sind Lehrer geworden oder haben anderweitig Karriere im öffentlichen Dienst gemacht. Gemeinsam mit ihrem Nachwuchs stellen sie heute, so die These, die primäre Zielgruppe der SPD. Dieselben Arbeiterkinder von gestern sind also die sozial engagierten „Mitte“-Bürger von heute. Hinzu kommen die SPD-nahen Arbeiter und Arbeitnehmer aus den hochproduktiven Industriebranchen (etwa der Automobilindustrie), die klar der Mittelschicht zuzurechnen sind.

Auf der anderen Seite stehen die Verlierer des gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels. Sie sind keine Kernklientel der SPD: Obwohl sie angesichts ihrer sozialen Lage SPD-affin sein müssten, stehen sie der Partei indifferent bis ablehnend gegen-über. Das heutige „Dienstleistungsprekariat“ ist – gleich den früheren Industrieproletariern – prinzipiell auf soziale Politik angewiesen, lässt sich aber ob der mangelnden habituellen Nähe zur Partei nicht als Wählerschaft gewinnen. Im Gegensatz zu den „Mitte“-Bürgern sind diese Gruppen nicht sozialdemokratisch sozialisiert und nehmen oft gar nicht erst an Wahlen teil.

Natürlich ist eine solche Analyse zu einfach gestrickt. Auch in prekären Milieus leben heute zahlreiche (Ex-)SPD-Wähler, die eng mit der Partei verbunden sind oder es einmal waren. Dennoch mehren sich derzeit die Stimmen, die eine endgültige Fokussierung der SPD auf die bildungsbürgerlichen Schichten und Mittelschichten einfordern. Diese seien ja die eigentlichen Traditionswähler und ließen sich leicht mobilisieren. Ohnehin könne man, so die Theorie, deren soziales Gewissen und fortschrittliche Ansichten nutzen, um auch weiterhin eine moderne und ausgleichende Politik für die gesamte Gesellschaft zu betreiben. Zudem seien die Aufgestiegenen weniger anfällig für rechtspopulistische Versuchungen und Ressentiments als das untere Gesellschaftsdrittel, wie zuletzt die Präsidentschaftswahlen in Österreich eindeutig gezeigt hätten.

Aufstieg ermöglichen, nicht Schwache verachten

Erst kürzlich meinte der Harvard-Professor Peter Hall in einem Spiegel-Interview, dass die Aufgestiegenen durch ihre Lebens- und Arbeitsumstände zu „sociocultural professionals“ heranreifen könnten, die aufgrund ihrer milieuübergreifenden und multikulturellen Kontakte quasi zwangsläufig über ein offenes und soziales Weltbild verfügten. Beschäftigte im einfachen Dienstleistungsbereich seien dagegen aufgrund mangelnder materieller Sicherheit, monotoner Tätigkeiten und unzureichender Außenkontakte für autoritäre und populistische Ansprachen leichter zu erreichen. Sein Fazit: Die SPD solle sich auf die privilegierten Gruppen konzentrieren, während die Unterprivilegierten langfristig wohl nur noch von Populisten bedient werden dürften.

Solche Urteile, an deren Ende zwangsläufig die Konzeption der SPD als Arrivierten-Partei steht, teilen – man verzeihe den Vergleich – das intellektuelle Schicksal der Marxschen Philosophie: durchaus plausibel in der Analyse, aber gefährlich in den Schlussfolgerungen.

Es ist völlig zutreffend, dass heute vor allem Angehörige der abgesicherten Mittelschicht als SPD-Wähler in Erscheinung treten, während sich viele ökonomisch Schwächere im Zuge der Agenda-Reformen frustriert zurückgezogen haben oder bereits apolitisch sozialisiert wurden. Und es trifft ebenso zu, dass die lebensweltlichen Präferenzen von Bildungsbürgern viel besser als jene von Discounter-Verkäufern zu einer Partei passen, deren Funktionäre mittlerweile selbst meist Bildungsbürger sind. Richtig ist auch, dass einfacher gebildete Milieus derzeit sehr anfällig für rechtspopulistische Angebote sind. Aber gerade aus sozialdemokratischer Perspektive kann doch die Antwort nicht lauten, dass man es dabei bewenden lässt. Peter Hall beschreibt ausdrücklich einen Zustand, in dem eine bestimmte Bevölkerungsgruppe (Aufsteiger, Globalisierungsgewinner) von einem privilegierten Zugang zu Ressourcen (Bildung, soziale Kontakte) profitiert und sich daher eine offenere Weltsicht erlauben kann. Es mutet also sonderlich an, wenn Sozialdemokraten den Privilegierten ihren Vorteil kurzum als Tugend anrechnen, während den Unterprivilegierten ihr eigener Nachteil zum Vorwurf gemacht wird. Sind die Urteilenden denn sicher, dass sich ihr Bewusstsein nicht ebenfalls verändern würde, wären sie gezwungen, von den luftigen Höhen der internationalen Netzwerke und postmaterialistischen Diskussionen hinunter zu den Existenzängsten und Verteilungskämpfen der weniger Glücklichen zu steigen?

Aristokraten mögen im 18. Jahrhundert über die Beschränktheit der pausenlos arbeitenden Bevölkerung gelästert haben, während sie selbst alle Zeit der Welt für Muße und geistigen Austausch besaßen. Sozialdemokraten aber steht ein solches Denken sehr schlecht zu Gesicht. Ihr Reflex müsste sein, das Gefälle zu glätten, statt es zu beschwören. Das hierarchische und undurchlässige Bildungssystem trägt einen großen Teil der Verantwortung dafür, dass sich die geistigen Lebenswelten derart entkoppeln. Sozialdemokraten stehen hier politisch in der Pflicht, Unterprivilegierte beim Aufschließen zu unterstützen, statt sich von ihnen loszusagen.

Den »bildungsfernen« geht man lieber aus dem Weg

Ohnehin ist beklemmend zu sehen, wie sehr Teile der akademisch und postmaterialistisch geprägten Parteieliten mittlerweile bemüht sind, die Lebenswelten der „Bildungsfernen“ auf Abstand zu halten. Manche scheinen schon länger nach einem Vorwand zu suchen, sich endlich von der unseligen Bindung an den einstmals glorifizierten „Proletarier“ zu verabschieden. Berührungsängste zwischen Akademikern und einfacher Gebildeten sind in der Geschichte der Sozialdemokratie zwar nichts neues, wie schon Alfred Döblin bezeugt: „Ich las Marx, Lassalle. Aber wenn ich neben den Arbeitern saß, war mir klar, dass meine Liebe platonisch bleiben musste.“ Doch waren die Akademiker früher beileibe nicht so dominant wie heute. Sie betrachteten sich innerhalb der Partei eher als geistiges Beiwerk einer eigentlich proletarischen Bewegung. Die Arbeiter blieben Koch, man selbst verstand sich, zumindest rhetorisch, als Kellner. Dieses Verhältnis hat sich längst verschoben, sodass die innerparteiliche Beletage selbstbewusst genug werden konnte, zuweilen mit unverhohlener Verachtung auf die „Einfältigen“ herabzuschauen.

Es spricht für sich, wenn Sozialdemokraten eine wachsende Wahlbeteiligung unter Geringverdienern fürchten, in der Annahme, dies helfe primär der AfD. Es ist zwar richtig, dass die Rechtspopulisten in Sachsen-Anhalt von der gestiegenen Wahlbeteiligung profitiert haben. Doch müsste es eigentlich sozialdemokratisches Selbstverständnis sein, dass man sich selbst als Bollwerk gegen derartige Versuchungen versteht – ergo aktiv um die Menschen kämpft.

Die Gefahr durch den Rechtspopulismus löst sich nicht dadurch in Luft auf, dass man prekäre Milieus stigmatisiert und abschreibt – im Gegenteil. Wo die AfD ohne Gegenwehr vor Ort mobilisiert, wird die steigende Wahlbeteiligung natürlich der AfD nützen. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten müssten hier vielmehr den Rat ihres Vorsitzenden beherzigen und „dorthin gehen, wo es stinkt“. Stattdessen argumentiert man insgeheim wie Westminster-Parlamentarier des 19. Jahrhunderts, die eine Ausweitung des Wahlrechts unter dem Vorwand blockierten, dass die Armen und Besitzlosen nicht gefestigt genug für verantwortungsvolle Teilhabe seien.

Ohne langfristige Aufbauarbeit geht es nicht

Die Sozialdemokratie sollte sich hüten, weiter in die Parvenü-Falle zu tappen. Der Wesenszweck dieser Partei besteht nicht nur darin, einer bereits weitgehend arrivierten Bevölkerungsgruppe zusätzlichen Grenznutzen und ideelle Selbstbestätigung zu servieren. Auch wenn die heute Aufgestiegenen oft (zumindest familiär) identisch sind mit den einstigen Arbeiterkindern der sechziger und siebziger Jahre, darf diese Gruppe die Partei nicht als ihr Eigentum betrachten, welches als exklusives Accessoire zuvorderst ihnen selbst zur Verfügung steht. Stattdessen muss die Partei auch immer dort zur Stelle sein, wo Aufstieg oder zumindest Ausgleich noch nötig sind, wo Hoffnungen noch verbaut und Chancen noch zu rar gesät sind.

Entgegen der Wirtschaftswunderrhetorik der vergangenen Jahre geht es vielen Menschen in diesem Land nicht gut. Nie war die Ungleichheit im demokratischen Deutschland größer. Neben materieller Armut belastet Unsicherheit das Leben vieler Erwerbstätiger in Form von befristeten Verträgen oder neuartigen Plattform-Unternehmen, die Erwerbsarbeit nur noch auftragsweise vergeben. Die soziale Frage ist also beileibe nicht erschöpft. Aufgabe der Sozialdemokratie muss – per Definition – sein, den benachteiligten Menschen eine Stimme zu geben und Ungleichheiten zu reduzieren.

Unumgänglich ist daher, dass sich wieder mehr „bildungsferne“ Menschen der Sozialdemokratie anschließen, ihre Sicht der Dinge einbringen und die mittlerweile von Akademikern monopolisierte Partei aufmischen. Es braucht schlicht und ergreifend wieder mehr Susi Neumanns in dieser Partei. Allerdings wird man deren Erfahrungsberichten zu Hartz IV und befristeten Verträgen auch tatsächlich zuhören müssen, ohne sie als rückwärtsgewandtes Gemecker abzutun. Für die davon betroffenen Menschen sind die Agenda-Reformen beileibe kein alter Hut: Sie sind ja in Kraft. Dünnhäutige Reaktionen bringen die Sozialdemokratie hier nicht weiter.

Gegen das Argument, dass eine Integration der prekären Milieus in die Sozialdemokratie nicht beziehungsweise nicht mehr möglich sei, sollte übrigens ein Verweis auf die eigene Geschichte genügen. Vor Lassalle hatten die damaligen Arbeiter schließlich auch noch kein vollentwickeltes Bewusstsein als politische Kraft. Linker Optimismus darf sich heutzutage nicht nur bei trendigen Tech-Themen wie Digitalisierung und Industrie 4.0 austoben, er muss auch die Menschen im Auge behalten.

Zur Bundestagswahl 2017 wird die SPD natürlich noch keine ausreichende Mobilisierung sozial prekärer Milieus erreichen, die für einen Wahlsieg nötig wäre. Hierzu bedarf es tatsächlich langfristiger Aufbauarbeit in oftmals bereits stark entpolitisierten Lebenswelten.

Langfristig aber muss der Markenkern der SPD in der Emanzipation der Schlechtergestellten liegen. Der Lebensstandard der Mittelschicht und eine postmaterialistische Werteagenda treten als gleichberechtigte, aber eben nicht übermächtige ­Ziele hinzu. Die Partei muss für einfache Angestellte im Dienstleistungsbereich ebenso Heimat sein wie für Linksakademiker. Ob das nun dieselben Milieus sind wie 1970 oder nicht, wäre dann gleich.


Dieser Beitrag erschien zuerst im Debattenmagazin Berliner Republik 3/2016.

Autor

Jérémie Gagné

Policy Fellow
Jérémie Gagné studierte Politik- und Europawissenschaften in Berlin und Paris. Seit Dezember 2014 ist er Policy Fellow im Progressiven Zentrum, wo er im Schwerpunktbereich Zukunft der Demokratie tätig ist. Hauptberuflich arbeitet und forscht er bei More in Common Deutschland zum Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt.

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