Eine Wahlarbeitszeit erhöht die Freiheit

Nils Heisterhagen in seiner Kolummne auf the Europeen

Die Zeiten ändern sich. Die Digitalisierung ändert viel. Die Arbeitszeitpolitik muss sich daher auch ändern! Eine Wahlarbeitszeit ist dafür eine diskussionswürdige Idee.

Die Analysen über die Belastungen im Arbeitsleben ähneln sich. Da sind Beschleunigung, Arbeitsverdichtung, räumliche und zeitliche Entgrenzung der Arbeit. Belastung ist für viele zuweilen Überlastung. Tendenz steigend. Und berücksichtigt man noch den demografischen Wandel hierzulande, kann es einem als jungem Menschen Angst und Bange werden, wie man das bloß noch alles schaffen soll.

Ist dieses Bild der Überlastungsgesellschaft wirklich stimmig? Glaubt man der Beschäftigtenbefragung der IG Metall von 2013, bei der sich mehr als 500.000 Menschen beteiligt haben, dann ja. So berichteten fast 80 Prozent der Befragten, dass sie sich mit einer stetig wachsenden Arbeitsbelastung konfrontiert sehen. Der unterschwellige Ton war: Diese Belastung wächst sich zur Überlastung aus, bitte helft uns.

Die IG Metall will helfen. Sie kämpft für Entlastung und für mehr Zeitsouveränität. Auch in der Politik ist das Thema angekommen. Nicht nur Arbeitsministerin Andrea Nahles und Familienministerin Manuela Schwesig stellen sich die Frage, wie man mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten schaffen kann. Sondern im Prinzip alle etablierten Parteien denken mehr und mehr über das Thema nach – sie glauben nämlich, damit Wahlen gewinnen zu können.

Aber wie macht man das: Mehr Zeit für alle?

Wahlarbeitszeit ist das neue Schlagwort

Ein Thesen- und Positionspapier des Denkraumes Arbeit schlägt eine Wahlarbeitszeit vor. Das Netzwerk von rund 100 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Gewerkschaft, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sucht Antworten auf die Herausforderungen einer Arbeitswelt im Wandel.

Die Wahlarbeitszeit wird als „neues Basisarrangement für eine mögliche lebensphasenorientierte Variation der Arbeitszeit ohne Statusveränderung“ empfohlen. Jeder Beschäftigte soll dem Vorschlag zufolge seine individuelle Normalarbeitszeit innerhalb eines Korridors (etwa zwischen 32 und 40 Stunden) nach individuellen Wünschen und ohne Angabe besonderer Gründe frei wählen können. Festgesetzt werden soll die Wahlarbeitszeit für einen Zeitraum von etwa zwei bis drei Jahren. Die Idee dahinter: Die Arbeitgeber sollen auch Planungssicherheit haben. Die Beschäftigten bekommen zugleich mehr Flexibilität – und erhalten so individuelle Gestaltungsoptionen. Eine Win-Win-Situation für alle.

Arbeitgeber werden sich trotzdem gegen so ein Modell wenden. Denn es schränkt ihre Souveränität ein. Mehr Freiheiten für die Beschäftigten gelten bei ihnen zumeist als Kontrollverlust. Zwar haben schon einige Unternehmen erkannt, dass Mitarbeiter eigene Gestaltungsoptionen mit mehr Leistung und mehr Identifikation mit dem Unternehmen zurückzahlen. Aber diese Unternehmen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben, sind noch immer stark in der Minderheit. Es gibt zwar einzelne Firmentarifverträge und Betriebsvereinbarungen, die eine Wahlarbeitszeit vorsehen. Aber fragt man die Mehrzahl der Arbeitgeber, dann geraten sie immer noch ins Schwitzen, wenn sie den Eindruck haben, ihren Beschäftigten mehr Rechte einräumen zu müssen.

Weil die Experten des Denkraumes Arbeit die Probleme und Herausforderungen des Wahlarbeitszeitmodells kennen, fordern sie eine gesetzliche Absicherung des Modells durch ein Wahlarbeitszeitgesetz. Sie vertrauen nicht darauf, dass sich die Arbeitgeber von der Idee einfach so überzeugen lassen.

Neue Ideen braucht die neue Zeit

So ein Wahlarbeitszeitgesetz wäre in der Tat wohl heftig umkämpft. Aber warum soll man diesen Streit vermeiden? Eine gute Idee hat ihr Recht auf Diskussion. Und viele gute Ideen, die am Ende diesem Land gut getan haben, musste man erstreiten.

Vor allem erfordern neue Zeiten auch neue Ideen: Wenn sich die Zeiten ändern – wie gerade durch die Digitalisierung und den demografischen Wandel –, braucht es kein Festhalten an alten Mustern, sondern man muss sich offen die Fragen stellen: Wie können wir auf die neue Zeit reagieren? Wie gestalten wir die neue Zeit?

Das bedeutet für die Frage nach der neuen Arbeitszeit: Was wollen die Menschen? Sie wollen mehr Selbstbestimmung – glaubt man der Beschäftigtenbefragung der IG Metall. Es geht sodann um die Frage, wie dem Individuum neue Zeitsouveränitätsrechte verschafft werden können.

Dazu müssen sich die Arbeitgeber nun bewegen, und die Politik muss über ein Wahlarbeitszeitgesetz diskutieren.

Es geht nicht um völlige Selbstbestimmung, nicht um eine Anarchie der Zeitgestaltung. Sondern um ein Recht, die eigene Arbeitszeit an die Lebensphasen anpassen zu können. Wir brauchen individuelle Gestaltungsoptionen. Zeitsouveränitätsrechte sind Freiheitsrechte.

Zeitsouveränität darf kein Privileg sein. Und über Zeit muss verhandelt werden können. Über diese beiden Grundeinstellungen brauchen wir mehr Einigkeit.


Dieser Beitrag erschien zuerst bei The Europeen.

Autor

Er ist Grundsatzreferent der SPD-Fraktion in Rheinland-Pfalz. Zuvor war er Grundsatzreferent und Redenschreiber der letzten beiden IG Metall Vorsitzenden. Er hat an den Universitäten Göttingen und Hannover Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre studiert und an der Humboldt Universität zu Berlin in Philosophie mit einer Arbeit über einen "Existenziellen Republikanismus" promoviert.

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