Digitale Souveränität – Ein Narrativ des Fortschritts

Discussion Paper von Svenja Falk & Wolfgang Schroeder

Zusammenfassung

Die Corona-Krise und aktuell der Krieg in der Ukraine führen die Herausforderungen internationaler Vernetzung und Abhängigkeiten vor Augen. Neu entbrannt ist die Debatte um die Bedeutung von Souveränität im 21. Jahrhundert und die digitale Sphäre ist einer der Hauptschauplätze. In ihrem Diskussionspapier präsentieren Svenja Falk und Wolfgang Schroeder ein positives Narrativ der digitalen Souveränität, das ein Leitbild für menschenorientierte Digitalpolitik bietet.

Das vorliegende Diskussionspapier liefert systematische Denkanstöße für ein positives Leitbild des Dürfens, Könnens und Wollens der digitalen Souveränität. Als Schlüsselnarrativ kann sie den Rahmen für nachhaltig erfolgreichen digitalen Wandel auf deutscher und europäischer Ebene geben.

Selbstständigkeit stärken

Digitale Souveränität steht für verantwortete, partielle Selbstständigkeit in einer vernetzten Welt, nicht jedoch für den Weg in die Autarkie. Individuen, Gesellschaften und Staaten sind souverän, wenn sie im Konfliktfall selbstbestimmt Entscheidungen treffen können. “Digitale Souveränität” ist damit als eine Voraussetzung zu verstehen, um Handlungsspielräume in digitalen Kontexten zu erkennen und sie selbstbestimmt nutzen und gestalten zu können.

Der Ruf nach digitaler Souveränität ist der Versuch, […] dem Gefühl der Vulnerabilität der eigenen Strukturen, Ressourcen und Rechte auf dem Terrain des Digitalen etwas entgegenzusetzen und der europäischen Digitalisierungspolitik eine klarere Richtung zu geben.

Svenja Falk und Wolfgang Schroeder

Kollektive und individuelle Souveränität

Digitale Souveränität sollte nicht nur als Fähigkeit von Staaten, digitalpolitisch unabhängig zu agieren, konzipiert werden. Die gesellschaftliche und individuelle Gestaltung der digitalen Transformation ist unabdingbares Gegenstück digitaler Souveränität. Nur mit der Befähigung von Anwender:innen und deren demokratischer Partizipation kann digitale Souveränität zum Leitmotiv werden.

Dabei geht es darum…

▶ auf der individuellen Ebene

  • über Potentiale und Risiken aufzuklären, 
  • Kompetenzen zu vermitteln und Ängste abzubauen,
  • Rechte zu übertragen und zu ihrer Ausübung zu befähigen.

▶ auf der kollektiven Ebene

  • die eigenen digitalen Infrastrukturen und Ressourcen weniger verwundbar zu machen,
  • eine Balance zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit in Bezug auf digitale Schlüsseltechnologien zu finden,
  • klare rechtliche, kulturelle und wirtschaftliche Präferenzen für die Richtung der Digitalisierung zu entwickeln.

Das Dürfen, Können und Wollen

Sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene fußt das Konzept digitaler Souveränität auf den Kategorien des Dürfens, Könnens und Wollens. 

Die Dimension des Dürfens beschreibt den rechtlichen Rahmen, der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten umgrenzt. Er spielt eine entscheidende Rolle zur Strukturierung digitaler Geschäftsmodelle, Arbeitsprozesse, wie auch Partizipationsformen. Nur wenn er ausreichend definiert ist, ist souveränes Handeln im digitalen Raum für Individuen, Organisationen und Staaten möglich. Eine besondere Herausforderung liegt hier in der Schaffung eines harmonisierten Rechtsrahmens, der über Nationalstaaten hinausreicht, ihnen aber auch Gestaltungsspielräume ermöglicht.

Zum einen ist die zielgenaue Ausgestaltung dieses rechtlichen Rahmens wichtig, um die individuelle Sphäre der Selbstbestimmung festzulegen. Zum anderen müssen schwächere Interessen gegen machtvollere Interessen gestärkten werden.

Svenja Falk und Wolfgang Schroeder

Die Dimension des Könnens bezieht sich auf die notwendigen Kompetenzen, um souverän Entscheidungen zu treffen zu können. Ein gezieltes Design digitaler Infrastruktur, z.B. mit Fokus auf Open-Source Technologien, kann sie stärken. Zum Abbau bestehender Abhängigkeiten sind umfangreiche Investitionen in Schlüsseltechnologien notwendig. Dabei muss aber abgewogen werden, in welchen Bereichen eigene Kapazitäten aufgebaut werden können und wo über Kooperationen auf Augenhöhe und wechselseitige Abhängigkeiten Souveränität hergestellt werden kann.

Um die individuelle Souveränität zu fördern, müssen mit gezielten staatlichen und gesellschaftspolitischen Interventionen die materiellen, kognitiven, sozialen und auch kulturellen Voraussetzungen geschaffen werden.

Svenja Falk und Wolfgang Schroeder

Die Dimension des Wollens bezieht sich auf die grundlegende Motivation der gesellschaftlichen Akteure zur Gestaltung der digitalen Transformation. Um die Motivation für eine Handlung hervorzurufen, müssen sich deren Ziele und Nutzen erschließen. Individuell und kollektiv betrifft dies vor allem das “Warum” digitaler Prozesse. Bleibt diese Dimension ungeklärt, wird Digitalisierung schnell als Zumutung und Gefahr für die eigene Lebensweise oder das Geschäftsmodell gesehen. Mit einem klar und demokratisch definierten “Wollen” lassen sich zudem Entwicklungen ablehnen, die nicht zu den eigenen Grundwerten passen.

Leitbild für menschenorientierte Digitalpolitik

Das hier vorgestellt Konzept der digitalen Souveränität bietet eine handlungsorientierte Perspektive, um sich im Kontext der digitalen Transformation zu orientieren und klarer zu positionieren. Es ist als politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Leitbild zu verstehen. 

Auf internationaler Ebene ist ein klares Wertefundament von digitalpolitischen Kooperationen zentral. Konkrete Initiativen zur Stärkung digitaler Souveränität wie das Projekt Gaia-X, mit dem der Aufbau einer sicheren und leistungsfähigen Dateninfrastruktur für Europa angestrebt wird, zeigen in Europa den Weg voran. 

Nur wenn die Digitalisierung demokratischen Ansprüchen gerecht wird und Bürger:innen sie als gesamtgesellschaftliches Fortschrittsprojekt begreifen können, wird sie nachhaltig gelingen. Dafür müssen alle relevante Akteur:innen von Politik über Verwaltung und Unternehmen bis hin zur Zivilgesellschaft gemeinsam und koordiniert Verantwortung übernehmen. 

Eine menschenorientierte Digitalpolitik mit mündigen, digital souveränen Bürger:innen, Organisationen und Staaten kann die Demokratie stärken und damit auch Europas Zusammenhalt sichern.


Das Papier ist Ergebnis eines intensiven Austauschs und breiter angelegten Arbeitsprozesses zwischen dem Progressiven Zentrum und Accenture.

Autor:innen

Prof. Dr. Wolfgang Schroeder ist Vorsitzender des Progressiven Zentrums. Er hat den Lehrstuhl „Politisches System der BRD – Staatlichkeit im Wandel“ an der Universität Kassel inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Verbände und Gewerkschaften.
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Prof. Dr. Svenja Falk ist Managing Director bei Accenture. Sie leitet Accenture Research Europa sowie die Arbeitsgruppe „Digitale Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0“, ist Fellow an der Hertie School in Berlin und Honorarprofessorin an der Justus-Liebig Universität Gießen.

Wir entwickeln und debattieren Ideen für den gesellschaftlichen Fortschritt – und bringen diejenigen zusammen, die sie in die Tat umsetzen. Unser Ziel als Think Tank: das Gelingen einer gerechten Transformation. ▸ Mehr erfahren