Die soziale Marktwirtschaft auf Kurs bringen

Es bedarf neuer Methoden und Modelle, die Qualität und Effizienz des (Sozial-) Staats erhöhen

Während die Beschäftigungszahlen stetig steigen, leben in Deutschland 1,5 Millionen Kinder von Hartz-IV-Leistungen. Diese und andere Befunde zeigen: Das Wirtschaftswachstum in Deutschland kommt nicht allen zu Gute. Quirin Blendl kritisiert, dass die Zurückhaltung der Politik die Spaltung der Gesellschaft befördert – und hat Ideen, wie gerade die Sozialdemokratie die soziale Marktwirtschaft wieder inklusiv gestalten kann.

Ende 2015 lebte in Berlin fast jedes dritte Kind unter 15 Jahren von Hartz-IV-Leistungen. Genauso in Bremen. In Sachsen-Anhalt und Hamburg waren es immer noch jedes fünfte Kind. Deutschlandweit waren es im Jahr 2015 über 1,5 Millionen Kinder, 30.000 Kinder mehr als im Jahr 2014. Zugleich jagen die Beschäftigungszahlen von einem Rekord zum nächsten. Die Rechnung „sozial ist, was Arbeit schafft“ geht nicht auf. Progressive Politik muss Antworten auf dieses Problem geben.

Der vor einem Jahr verstorbene Psychologieprofessor Peter Kruse hat eindrucksvoll dargestellt, wie zerrissen unsere Gesellschaft ist. Zwei Pole trennen Deutschland unvereinbar und divergent: erfolgreich und dynamisch gegen chancenlos und resigniert. Letztere bewerten die Entwicklung der Arbeitswelt mit Begriffen wie Chancenungleichheit, soziale Kälte und Zukunftsangst. Sie fühlen sich von den Vorteilen der Gesellschaft ausgeschlossen. Beiden Seiten fehlen eine gemeinsame Sprache und ein Konsens über die Ziele von wirtschaftlichem Wachstum und gesellschaftlichem Fortschritt.

Doch die Politik duckt sich weg. Anstatt Stellung zu beziehen und die Menschen durch Offenheit und Diskurs mitzunehmen, verschließt sie die Augen vor dem brodelnden Vulkan. Resignation und Wut machen sich breit, bilden den Nährboden für eine die gesamte Gesellschaft durchziehende Verrohung. Die Folgen sind nicht zu übersehen: Europas Populisten sind nicht allein Sammelbecken der ewig Gestrigen. Sie sind zugleich falsch verorteter Protest gegen diese Spaltung.

Progressive Politik und die Sozialdemokratie an ihrer Spitze stehen in der Pflicht, eine Neujustierung der sozialen Marktwirtschaft vorzunehmen. Denn Deutschland sehnt sich nach einer Gesellschaft, in der die Verteilung von gesellschaftlichen Gütern wie Sicherheit, Freiheit, Bildung, Berufschancen und Einkommen unter fairen bzw. gerechten Bedingungen geschieht. Dafür bedarf es Chancengleichheit. Dies ist die Leitidee der sozialen Marktwirtschaft und dies muss wieder Kernthema von progressiver Politik werden. Doch insbesondere der Sozialdemokratie fehlt ein modernes soziales Profil, das Teilhabe und Chancengleichheit in Verbindung mit einem neuen und  inklusivem Wachstumsbegriff ins Zentrum stellt. Weder der Versuch, die Agenda 2010 in ein positives Licht zu rücken, noch die Einführung des Mindestlohns konnten der Partei zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen. Stattdessen bedarf es einer Reihe neuer Ideen, die sich im Wesentlichen auf die drei Pfeiler „Chancengleichheit“, „Wirksam Regieren“ und „Gestaltung der neuen Arbeitswelt“ stützen:

  1. Chancengleichheit heißt, für Heranwachsende möglichst ähnliche Voraussetzungen zu schaffen. Dafür bedarf es umfangreicher Investitionen in Qualität und Quantität der Bildung. Frühkindliche Förderung und zeitgemäße Familien- und Genderpolitik sind wichtige Bausteine. Auch die Qualität der universitären Bildung muss sich mit den besten dieser Welt messen lassen. Bafög und Studiengebühren schienen dafür einmal geeignete Mittel zu sein.
  2. Es bedarf neuer Methoden und Modelle, die Qualität und Effizienz des (Sozial-) Staats erhöhen. Das Grundeinkommen könnte dabei ein hilfreiches Element sein. Die Steuergerechtigkeit ist es auf jeden Fall. Steuern auf Arbeit und Leistung müssen reduziert und Vermögen stärker in die Verantwortung genommen werden. Dabei sollten die Privilegien bei der Erbschaftssteuer angepasst und die wiederkehrenden Grundsteuer auf die Agenda gesetzt werden.
  3. Die Digitalisierung zwingt uns in naher Zukunft zu einem völlig neuen Verständnis von Arbeit. Dabei muss die Flexibilisierung der Arbeitswelt mit steigender sozialer Sicherheit und Verlässlichkeit einhergehen. Es bedarf neuer Ideen, um die Grenzen und Übergänge der Arbeit neu zu definieren. Kreativität und Freiheit müssen in das Zentrum eines neuen Arbeitsbegriffs gerückt werden. Es bedarf eines Selbstfindungsprozesses , der das „Soziale“ in Marktwirtschaft neu definiert und mit wirtschaftlicher Inklusion und gesellschaftlicher Teilhabe in Einklang bringt.

Autor

Quirin Blendl ist seit 2013 für den Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) tätig. Dort betreut er seit über einem Jahr die Themen Cybersicherheit und Industrie 4.0. Zuvor arbeitete Quirin Blendl für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP) in Bonn. Er hat im Jahr 2012 seinen Magister Artium in Internationaler Politischer Ökonomie und Psychologie an der Universität Bonn erhalten.

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