Die offene Gesellschaft als Chance

Die Mitte der Gesellschaft ist heute ein unübersichtliches Knäuel sozialer Pfade. Will eine Partei allen gefallen, wird sie am Ende niemanden überzeugen. Darum muss die SPD ihre alte Stärke als moderne Partei des Fortschritts neu entdecken.

Lange Zeit war die gesellschaftliche Mitte eine einfach zu umreißende Kategorie. Wer hart arbeitete und sich dabei nicht ganz dumm anstellte, schaffte in den meisten Industrienationen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Sprung in eine vergleichsweise sorgenfreie Welt mit sicheren Arbeitsverträgen, steigenden Einkommen und einem starken sozialen Umfeld. Diese Mitte profitierte vom Wirtschaftswachstum und vom technologischen Fortschritt; sie fühlte sich sozial anerkannt, dank der Gerechtigkeitsrevolutionen vom Ende der Wochenendarbeit bis hin zur Elternzeit. Diese Mitte wählte Volksparteien. In Deutschland oft die SPD.

Heute ist die gesellschaftliche Mitte ein unübersichtliches Knäuel sozialer Pfade. Wirtschaftlicher Strukturwandel und globaler Wettbewerb haben Branchen komplett verändert, alte Berufsbilder zerstört, neue geschaffen. Das hat die Lebensrealität der Mitte über den Haufen geworfen – ökonomisch und sozial. Die Mitte des frühen 21. Jahrhunderts umfasst so widersprüchliche Gruppen wie gesellschaftlich frustrierte und offen rassistische Spießbürger, technologieaffine und weltoffene Großstadt-Nerds, oder christlich-ökologische TTIP-Gegner.

Der Rückzug in die »heile Welt« ist ein Irrweg

Die heutige Mitte könnte politisch heterogener kaum sein. Es gibt drei grobe Kategorien. Die erste Gruppe („Neo-Nationalisten“) sucht die Rückkehr in eine vermeintlich heile Welt des geschützten Nationalstaats hinter geschlossenen Grenzen. Die zweite Kategorie („strukturkonservative Linke“) kämpft leidenschaftlich gegen die vermeintlichen Ungerechtigkeiten des wirtschaftlichen Strukturwandels an und will die alten Errungenschaften der Mitte verteidigen – durch harte Steuerumverteilung, einen großzügigen Sozialstaat und den Schutz von Sektoren, wenn es sein muss, sogar durch Kohlesubventionen. Die dritte Gruppe („gesellschaftliche Erneuerer“) setzt auf die Chancen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels, auf Europa, auf Digitalisierung, auf neue Lebens­realitäten jenseits des konservativen Sozialmodells.

Die SPD weiß heute nicht mehr, welche der drei Gruppen sie ansprechen soll. Natürlich wäre es für eine Volkspartei falsch, sich nur eine davon auszusuchen. Doch ein Spagat kann hier nicht gelingen. Politik ist als opportunistischer Gemischtwarenladen – je nach aktuellem Publikum – nicht glaubwürdig.

Dennoch hat die SPD eine große Chance. Wer die heutige Mitte noch etwas genauer betrachtet, wird eine klare Einteilung erkennen: zwischen den Befürwortern einer offenen Gesellschaft und den Befürwortern einer geschlossenen Gesellschaft. Die letztgenannte Gruppe umfasst die Neo-Nationalisten, aber auch Teile der strukturkonservativen Linken. Die erstere umfasst das moderne und offene Gewerkschaftsmilieu, die urbane Mittelschicht, die Kreativen, die risikofreudigen Gestalter neuer Lebensrealitäten.

Es ist seit jeher die Kernkompetenz der SPD, Deutschland mit notwendigen und klugen Reformen immer wieder auf die Höhe der Zeit zu bringen, auch wenn die Maßnahmen nicht immer populär waren. Dafür stand Willy Brandt mit seiner neuen Ostpolitik. Dafür stand Helmut Schmidt mit seiner Europapolitik. Und dafür stand Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010.

Heute sind Reformen wieder dringend nötig

Auch heute hat Deutschland Reformen wieder dringend nötig. Das Land steht wirtschaftlich gut da, leidet aber an Selbstgefälligkeit. Wir sind zwar gegenwartsfähig – aber sind wir auch zukunftsfähig? Unser Bildungssystem muss dringend an die Anforderungen einer mobilen und digitalen Welt angepasst werden. Unser Arbeitsmarkt muss offener werden – für Frauen, für Zuwanderer und für ältere Menschen. Unsere Verwaltung braucht eine schlankere und digitale Neuausrichtung. Wie steht es um grünes Wachstum? Wie steht es um die Toleranz gegenüber neuen Familienmodellen, religiöser Zugehörigkeit und gleichgeschlechtlichen Ehen sowie um die Integration von Menschen in unsere Gesellschaft, die von außen zu uns kommen? Wie stark ist unser Glaube an Europa, wenn große Erfolge wie die gemeinsame Währung, von der gerade Deutschland am meisten profitiert hat, an allen Ecken und Enden zerredet werden? Und: Wer die deutsche Infrastruktur kennt – vom Breitbandnetz bis zum Zustand deutscher Grundschultoiletten –, der weiß, dass mürrische Pfennigfuchserei den Anforderungen an Investitionen in unserem Land nicht mehr entspricht. Deutschland braucht Investitionen.

Viele Sozialdemokraten werden jetzt sagen: Das fordern wir doch alles längst. Falsch ist das nicht; doch solche Reformvorschläge können nicht nur nettes Beiwerk eines SPD-Profils sein, sondern müssen zum Markenprofil der Partei werden. Die SPD muss zur Fortschrittspartei der offenen Gesellschaft werden.

Die Sozialdemokraten sollten sich deshalb darauf konzentrieren ihr wirtschaftspolitisches Profil auf Reformen und Fortschritt auszurichten. Nur umfasst das auch Bereiche, mit denen sich die Partei eher schwer tut, selbst wenn es ihr eigentlich leicht fallen müsste. Hier ist eine Liste mit Beispielen.

Beispiel demografischer Wandel: Die arbeitende Bevölkerung Deutschlands wird bis 2060 um rund 20 Prozent schrumpfen. Selbst wenn das Wachstum pro Arbeitnehmer weiter steigt, wird das Gesamtvolumen des deutschen Bruttoinlandsprodukts nicht wachsen, weil die Zahl der arbeitenden Menschen zurückgeht. Deutschland kann auf diese Veränderung nur angemessen reagieren, wenn mehr Menschen in den deutschen Arbeitsmarkt gebracht werden.

Wie locken wir Hochqualifizierte ins Land?

Das gilt zuallererst für Frauen. Es kann nicht sein, dass eine halbe Million Frauen, die statt in Teilzeit gern in Vollzeit arbeiten würden, durch allerlei Barrieren davon abgehalten werden. Konkrete Beispiele sind ein archaisches Steuermodell für Zweitverdiener (Stichwort: Ehegattensplitting) aber auch die viel zu teure und spärliche Kinderbetreuung. Solche Punkte sind keine politischen Details, sondern charakterisieren unser Gesellschaftsmodell. Es spricht Bände, dass das Betreuungsgeld erst am Bundesverfassungsgericht gescheitert ist und nicht bereits im politischen Prozess einer Großen Koalition unter Beteiligung der SPD.

Dass Deutschland zu einem Einwanderungsland werden muss, ist hinreichend bekannt. Ein echtes Einwanderungsgesetz haben wir indes immer noch nicht. Dass die Große Koalition­ ein Integrationsgesetz geschaffen hat, ist lobenswert, aber wo bleibt das Punktesystem, mit dem hochqualifizierte Menschen aus aller Welt zu uns gelockt werden könnten? Der deutsche Arbeitsmarkt muss offener werden. Dass dafür ausländische Ausbildungs- und Studienabschlüsse einfacher und schneller anerkannt werden müssen, ist zwar kontrovers, aber notwendig. Ebenso kontrovers sind die Schlagworte längere Lebensarbeitszeit und kürzere Studienzeiten. Aber Deutschland kann es sich nicht leisten, bei Arbeitsmarktthemen nur in der Defensive zu verharren.

Beispiel Arbeitsmarkt: Warum ist das Zielbild vieler Sozialdemokraten immer noch der feste und unbefristete Arbeitsplatz, obwohl die Lebensrealität zahlloser, gerader jüngerer Arbeitnehmer ganz anders aussieht? Viele Berufe der Industrie 4.0 stützen sich auf Kleinselbständige wie Programmierer oder Webdesigner. Aber der Kleinselbständige muss in Deutschland gegen die Großbürokratie kämpfen, die von der privaten Krankenversicherung über die private Rentenversicherung bis hin zum Dauerbesuch beim Finanzamt und Steuerberater keine Hürde auslässt. Ist das sozial gerecht? Die SPD beginnt in diesem Feld Vorschläge zu formulieren, aber das Profil der Partei prägen sie noch nicht.

Beispiel Dienstleistungen: Warum ist es nicht die SPD, die eine Öffnung der hoch regulierten Berufsgruppen fordert? Sozial gerecht wären solche Reformen allemal. Sind es nicht gerade die unteren Einkommensgruppen, die von mehr Wettbewerb unter den Apotheken profitieren würden, weil dann die Preise fallen? Sind es nicht gerade ältere Menschen, die durch ein anderes Mobilitätskonzept jenseits des absurd hoch regulierten Taxigewerbes endlich günstige und flexible Fortbewegung angeboten bekämen? Warum dreht sich in der Diskussion über die Erbschaftssteuer so wenig um die Notarkosten, die schon bei einfachen Testamenten wegen des in der Regel hohen Geschäftswerts des Erbes in die Tausende gehen (bei wenigen Stunden Arbeitszeit)?

Beispiel Digitalisierung: Den digitalen „Sektor“ gibt es schon lange nicht mehr. Die Digitalisierung hat alle Bereiche unseres Lebens erfasst. Neue Technologien und neue Geschäftsmodelle prägen unseren Alltag. Dementsprechend weit gespreizt liegen die Herausforderungen: von „Big Data“ und Datenschutz über die Bedeutung von Software in allen Lebensbereichen bis hin zu den Möglichkeiten der Digitalisierung beim Bürokratieabbau oder in der Medizin und der Schaffung eines angemessenen Ordnungsrahmens. Eine offene Sozialdemokratie erkennt die wirtschaftlichen Chancen unserer Zeit, anstatt sie mit strukturkonservativen Reflexen abzulehnen.

Den Schritt zu einem effektiven Europa wagen

Beispiel Bildung: Dass Bildung in Deutschland unterfinanziert ist, gehört ja schon zum Standardrepertoire der Parteien. Wer aber kümmert sich um die irrsinnige Dezentralisierung des deutschen Bildungssystems, den föderalen Flickenteppich? Moderne Berufsbilder erfordern Mobilität, doch die länderspezifischen Eigenheiten im deutschen Schulsystem behindern Mobilität. Das passt nicht zusammen.

Beispiel Berufsausbildung: Das duale System gehört zum Kern des deutschen Gesellschaftsmodells. Aber entwickelt sich dieses System eigentlich weiter? Sind die starr definierten Abschlüsse noch zeitgemäß? Passen sie zu flexiblen Karrieren mit unterschiedlichen Berufsbildern? Stimmt der Anteil der digitalen Komponenten? Und ist das System durchlässig genug?

Beispiel Energieagenda 2030: Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität können nur gesichert und – wichtiger noch – ­verbessert werden, wenn die Energieversorgung zu fairen, ­stabilen Preisen möglich, langfristig gesichert sowie umwelt- und klimapolitisch nachhaltig ist. Nur wenige Länder kennen diese Herausforderung so genau wie Deutschland. Denn die Energiewende ist Aufgabe und Chance zugleich. Es müsste die SPD sein, die das Wagnis eingeht, einen der weltweit führenden Industriestandorte auf eine neue, nachhaltige Energie­basis zu stellen.

Beispiel europäische Integration: Europa ist längst Teil der deutschen Wirtschaftspolitik. Deutschland gehört nicht nur einem Binnenmarkt und einer Währungsunion an, sondern auch einer supranationalen Wirtschaftsunion, in der viele Entscheidungen gemeinsam von den Institutionen der Europäischen Union grenzüberschreitend getroffen werden müssen. Neue Integrationsmodelle stehen auf der Tagesordnung. Dass unser Kontinent einen parallelen Weg zu mehr Souveränitäts- und mehr Risikoteilung akzeptieren muss, haben die meisten längst verstanden. Aber aus Angst vor den neo-nationalistischen und strukturkonservativen Ressentiments drückt sich auch die SPD davor, diesen Schritt zu einem effektiveren Europa dezidiert einzufordern. Dabei steht Europa für Solidarität. Die Flüchtlingskrise hat gezeigt, dass Deutschland die Solidarität anderer Länder ebenso braucht wie die anderen Länder die Solidarität Deutschlands in der Eurokrise.

Beispiel Globalisierung und weitere Integration der Weltwirtschaft: Das Schlagwort des 21. Jahrhunderts wird nicht mehr nur „Globalisierung“ sein, sondern „Globales Wachstum“. Der rasante Bevölkerungszuwachs in vielen Regionen der Welt wird dank enger wirtschaftlicher Vernetzung weltweit hohes Wachstum und Wohlstand hervorbringen, das die relative Bedeutung der deutschen Wirtschaftsproduktion sicherlich mindern wird, dafür aber enorme Chancen bietet. Diese Chancen gilt es zu nutzen.

Jede der genannten Veränderungen bringt Herausforderungen für das heutige Modell Deutschland mit sich. Wer ehrlich ist, der weiß, dass unser Land sich von Grund auf ändern muss. Reformen sind dabei kein Selbstzweck. Gegen den Missbrauch der Reformdebatte zur sozialen Spaltung der Gesellschaft steht die Sozialdemokratie mit einem klaren Kompass der Gerechtigkeit. Der konservative Reflex von Beharrung und Abschottung aber ist eine schlechte Alternative in einer Welt voller sozialer Veränderungen. Reformen sind notwendig, um die nächste große Transformation unserer Gesellschaft einzuleiten, unsere Chancen zu mehren, unsere Potenziale zu nutzen, die Teilhabe zu verbreitern und Zukunftskompetenz zu gewinnen.

Die Aufgabe einer zukunftsorientierten SPD muss es sein, diese Veränderungsprozesse zu gestalten und Deutschland sozial gerecht in ein neues Zeitalter zu führen. Die SPD wird das Comeback nur als reformhungrige Fortschrittspartei schaffen.


Dieser Beitrag erschien zuerst im Debattenmagazin Berliner Republik 3/2016.

Autor

Henrik Enderlein war Direktor des Jacques Delors Instituts Berlin, Professor für Politische Ökonomie an der Hertie School of Governance in Berlin und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Progressiven Zentrums. Er studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften an der Sciences Po in Paris und an der Columbia University in New York. Enderlein starb im Mai 2021.

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