Fehler und Erfolge der deutschen Corona-Politik

Forscher fordern Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Politik des Ausnahmezustandes

Aus der Pandemie lehren ziehen. Ja – aber wie? Im Sondierungspapier der Ampel-Verhandler:innen gibt es hierzu noch wenig greifbares. In den Jahren der Pandemiepolitik wurden viele Fehler begangen, die vorrangig als politisches Versagen zu bewerten sind. Wie können die richtigen Lehren aus der Krise gezogen werden, um besser auf kommende Herausforderung vorbereitet zu sein? Zur Aufarbeitung der letzten zwei Jahre empfehlen die drei WZB-Forscher Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels und Hans-Peter Bartels eine fraktionsübergreifende Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags mit Vertreter:innen aller gesellschaftlich relevanten Bereiche.

SPD, Grüne und FDP bekennen sich in ihrem Sondierungspapier zwar zur Stärkung des Gesundheitssystems: „In der Gesundheitspolitik wollen wir Vorsorge und Prävention zum Leitprinzip machen. Wir wollen unser Gesundheitswesen stark machen, damit es für kommende Krisen, etwa eine neue Pandemie, gut vorbereitet ist. Dafür werden wir aus den Erkenntnisse der Pandemie lernen und den Öffentlichen Gesundheitsdienst digitalisieren und stärken.“ Um aber besser auf künftige Gesundheitskrisen vorbereitet zu sein, sollte im Koalitionsvertrag schon etwas mehr und vor allem konkretes zum Lernen aus der Pandemie stehen. Denn weltweit hat die Corona-Pandemie bisher 5 Millionen Leben gekostet, in Deutschland bald 100.000. Politische Weichenstellungen hatten existenzielle Folgen.

Mittlerweile sind hierzulande 80 Prozent der Erwachsenen geimpft. Die sich formierende „Ampel“-Koalition lässt die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“, die der Deutsche Bundestag auf Grundlage des geänderten Infektionsschutzgesetzes seit dem 25. März 2020 kontinuierlich festgestellt hatte, auslaufen. Nun sollte in der neuen Wahlperiode auch eine gründliche Aufarbeitung der Politik des Ausnahmezustandes möglich sein, am besten in Form einer parlamentarischen Enquete-Kommission. 

Fokus: Das politische Management

Während der Pandemie hatte diese Politik des Ausnahmezustands einen zentralen, sichtbaren Ort: Das waren die permanenten Konflikte zwischen Bund und Ländern darüber, wer das Sagen hat und was konkret zu tun wäre. In der Retrospektive war dies jedoch eher ein Nebenschauplatz. Das Problem waren weniger diese Bund-Länder-Koordinierung oder die medizinischen Problemlagen, sondern das politische Management.

Die Arbeitshypothese hier lautet:

Das Virus war und ist weniger eine medizinische als eine politische Management-Herausforderung.

Es sind aufs Ganze betrachtet weniger defizitäre medizinische Kapazitäten (Impfzentren, Intensivbetten etc.) als die administrative Krisen- Infrastruktur und die politische Managementkompetenz, die es zu betrachten gilt, um aus den Erfahrungen der Corona-Jahre zu lernen. 

Eine problematische Weichenstellung

Der erste Fehler des deutschen Pandemie-Managements lag darin, die Krise als eine rein medizinische zu definieren und die Zuständigkeit dafür größtenteils beim  Gesundheitsministerium des Bundes (BMG) zu verorten. Als klassisches Gesetzgebungsministerium verfügt das BMG über wenig eigenes Personal und einen vergleichsweise kleinen nachgeordneten Bereich. Für die Corona-Bekämpfung wurde zwar eine Stabstelle zur Lageführung eingerichtet. Die zentrale Aufgabe des Bevölkerungsschutzes aber gehört in den Geschäftsbereich des ungleich größeren Innenministeriums mit dem nachgeordneten Technischen Hilfswerk und dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Viele Fehlentwicklungen leiten sich aus dieser folgenreichen und falschen Startprogrammierung ab.

Unklare Zielsetzung

Zugleich blieb beinahe über den gesamten Verlauf der Pandemie in Deutschland ungeklärt, auf welches Ziel die staatlichen Maßnahmen vorrangig gerichtet sein sollten: a) Reduzierung der Infektionszahlen („Inzidenz“-Orientierung) oder b) Bewahrung des Gesundheitssystems vor Überlastung oder c) Reduzierung der Zahl von Todesfällen und schweren Verläufen.

Aus diesem Grund stellen sich Fragen, wie: Wenn für die Pandemiebekämpfung und für den Katastrophenschutz generell eine klare Zielbestimmung zentral ist, welche Vorkehrungen können dann getroffen werden, damit die Zielstellung eindeutig bestimmt ist, bevor Maßnahmen ergriffen werden?

Datenmangel und Wissensmanagement

Darüber hinaus fehlte es immer wieder an genügend Daten zur adäquaten Einschätzung der Risikoverteilung einer Covid-19 Erkrankung in der Gesellschaft, was jedoch die Wahl der politischen Mittel maßgeblich beeinflusste. Hinzu kam, dass es anfangs unzureichende Kenntnisse über wirkungsvolle Gegenmaßnahmen gab.

Daten zu diesen Bereichen hätten zu einer entschiedenen Steuerung der Pandemiepolitik beitragen können.

Die Exekutive darf sich in solchen Momenten nicht dumm stellen, auch nicht aus vermeintlich gutem Grund.

Sie muss wissen wollen, welche Zusammenhänge zwischen beobachtbaren Erscheinungen der Wirklichkeit anzunehmen sind. Nur so lange sie nichts oder wenig weiß, kann sie die immer gleichen Allgemeinverfügungen zum pauschalen Herunterfahren der Gesellschaft erlassen.

In diesem Kontext wird unter anderem die Frage zu klären sein: Wie kann eine Situation geschaffen werden, die es erlaubt, umfassende, verlässliche Informationen über die Kontextbedingungen eines Pandemiegeschehens zu erfassen, zu analysieren und in eine rationale Entscheidungsfindung über Maßnahmen einzubeziehen?

Mit einer Enquete-Kommission offene Fragen beantworten

Für die Analyse und Aufarbeitung des Umgangs mit der Corona-Pandemie sollte in der kommenden Wahlperiode eine Enquete-Kommission eingesetzt werden, der Abgeordnete aller Fraktionen sowie wissenschaftliche Sachverständige und Vertreter:innen wichtiger gesellschaftlicher Bereiche angehören. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss hätte zwar stärkere Rechte, würde aber möglicherweise unnötige Polarisierungen fördern, sich allein auf das Handeln der Bundesregierung beziehen und insbesondere aus der Perspektive parlamentarischer Kontrolle auf den Untersuchungsgegenstand blicken. Eine Enquete-Kommission dagegen kann umfassender und unabhängiger untersuchen, fragen und schlussfolgern.

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Aus Erfolgen und Fehlern lernen

Am Ende geht es darum, aus den Erfolgen und Fehlern im Umgang mit dem Pandemie-bedingten Ausnahmezustand zu lernen, um künftige Krisen zielgenauer bewältigen zu können.

Eine Corona-Enquetekommission des Deutschen Bundestages muss Antworten auf die entscheidende Frage finden: Was können die organisatorischen Formen eines besseren Krisenmanagements sein?

Ohne Zweifel bedarf es der politischen Ebene, die die Zielrichtung entscheidet. Daneben braucht es aber auch ein strategisches Management zur Zusammenführung von Zielen und Mitteln und schließlich eine operative Ebene, die die Maßnahmen umsetzt. Es ist offentsichtlich geworden, dass es der Institutionalisierung von Vorbereitung bedarf, sodass in Krisenfällen Strukturen bereitstehen, die entscheidungs-, handlungs- und umsetzungsfähig sind.


Prof. Wolfgang Schroeder ist Vorsitzender und Prof. Bernhard Weßels Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats im Progressiven Zentrum. 

Eine Langfassung des Textes ist zuerst erschienen im Juli 2021 auf der Website der Forschungsabteilung “Demokratie und Demokratisierung” des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) hier. Auch die FAZ berichtete am 19. Juli 2021 unter der Überschrift “Was ist in Deutschland bei Corona wo schiefgelaufen?” über die Empfehlungen zur Einrichtung einer neuen Enquete Kommission zur kritischen Aufarbeitung der Corona-Monate hier.



Autoren

Prof. Dr. Wolfgang Schroeder ist Vorsitzender des Progressiven Zentrums. Er hat den Lehrstuhl „Politisches System der BRD – Staatlichkeit im Wandel“ an der Universität Kassel inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Verbände und Gewerkschaften.

Prof. Dr. Bernhard Weßels

Wissenschaftlicher Beirat
Bernhard Weßels ist Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und stellv. Direktor der Abteilung “Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Zu seinen Forschungsgebieten gehören u. a. comparative political behavior, Interessenvermittlung und politische Repräsentation. Er ist Ko-Leiter der deutschen Wahlstudie (GLES) und Leiter des Manifesto Projekts (MARPOR).

Dr. Hans-Peter Bartels

Gesellschaft für Sicherheitspolitik
Hans-Peter Bartels ist Politiker (SPD) und ehemaliger Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestags (2015-2020). Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.

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