100 Tage Ampel: Ist der Koalitionsvertrag schon Makulatur?

Erkenntnisse aus der Diskussion – mit Wolfgang Schroeder & Tina Hildebrandt

Die Startbedingungen für die neue Bundesregierung waren extrem hart. Die Corona-Pandemie allein war ein schweres Erbe. Keine 100 Tage im Amt kommt die nächste Krise: Russland überfällt die Ukraine und entfacht den größten Krieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Und über allem hängt noch die Klimakrise und ihre globalen Auswirkungen. Was bedeutet dieser Start für die Reformagenda der Regierung? Braucht es möglicherweise gar einen neuen Koalitionsvertrag?

Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung nach 100 Tagen Ampel-Regierung? Im Auftrag des Progressiven Zentrums hat das Allensbach-Institut ein erstes, repräsentatives Stimmungsbild erstellt. Und das dürfte den Regierungsparteien zumindest in einigen Aspekten gefallen. SPD, Grünen und FDP war es wichtig, nach 16 Jahren CDU-geführter Regierung als Fortschrittsregierung wahrgenommen zu werden und ein Signal des Aufbruchs in die Gesellschaft zu senden. Und das ist offenbar gelungen. Die Allensbach-Zahlen zeigen: Nur 20 Prozent der Deutschen glauben, dass die Ampel für ein “Weiter so” steht. Die Hälfte der Deutschen verbindet die Koalition mit “Fortschritt”

Die Ergebnisse der Allensbach-Umfrage finden Sie hier:

Auch mit der Arbeit von Bundeskanzler Olaf Scholz sind die Deutschen, vor allem seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine, mehrheitlich einverstanden. Die Umfrageergebnisse zeigen aber auch, dass sich die absolute Mehrheit der Befragten um die Klimapolitik der Bundesregierung große Sorgen macht. 52 Prozent glauben demnach, dass sich dadurch soziale Unterschiede vergrößern werden.

Über die Ergebnisse der Umfrage berichteten zahlreiche Medien wie “Der Spiegel”, das “Handelsblatt”, die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” oder das “Redaktionsnetzwerk Deutschland”. Für eine detaillierte Analyse und Interpretation der Ergebnisse hatte das Progressive Zentrum seinen Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats, Prof. Dr. Wolfgang Schroeder, und die Chefkorrespondentin der Wochenzeitung “Die Zeit”, Tina Hildebrandt, zu einer Veranstaltung mit rund 170 Teilnehmer:innen eingeladen. Folgende vier Erkenntnisse sind aus der Diskussion geblieben:

1. Der Start ist grundsätzlich gelungen

Alles in allem, sind sich Schroeder und Hildebrandt einig, hat die neue Koalition hinsichtlich der Umfrageergebnisse gut abgeschnitten. Das zeige sich vor allem an zwei Aspekten: Zum einen sei die Ausgangslage, wie eingangs erläutert, extrem schwierig. Schroeder nennt sie gar die “schwierigste Startposition einer Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik”. Dass die Ampel nach 100 Tagen dennoch zu derart guten Werten kommt, sei bemerkenswert. Ein Bundestagsabgeordneter, der an der Diskussion teilnimmt, sagt, die Ergebnisse zeigten deutlich, dass das Fortschrittsnarrativ bei den Menschen angekommen sei. 

Diskussion mit Wolfgang Schroeder und Tina Hildebrandt vom 15. März 2022

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Zum anderen, das betont Schroeder, mache die Allensbach-Umfrage aber auch klar: Die Mehrheit der Deutschen habe hinsichtlich der Klimapolitik erhebliche Befürchtungen. Dass die Regierung trotz dieser Sorgen zu einer so hohen Zustimmung komme, wertet Hildebrandt als positives Zeichen, als Vertrauensvorschuss. Schroeder weist in dem Kontext aber darauf hin, dass die kritische Mehrheit rund um das Thema Klimapolitik als Arbeitsauftrag gesehen werden müsse – “da ist noch viel Luft nach oben”.

2. Der Stil ist nicht komplett neu

In rund 16 Jahren hatte sich die Bundesrepublik an den politischen Stil Angela Merkels gewöhnt, den viele als unaufgeregt, unprätentiös und pragmatisch in Erinnerung behalten dürften – zuletzt aber auch als risikoavers, reformunfähig und vor allem reaktiv. Manche Beobachter meinten bereits, im politischen Stil von Scholz und seinem Kabinett Ähnlichkeiten beobachten zu können. Schroeder sieht das zumindest in Teilen anders. Die klare Formulierung langfristiger und ehrgeiziger Ziele etwa, sei ein deutlicher Unterschied zur Merkel-Ära, die letztlich oft den Eindruck einer vor allem verwaltenden Regierung hinterließ. Eine Rückkehr in diese Zeit, zu diesem Stil, sagt “Zeit”-Korrespondentin Hildebrandt, sei aufgrund des immens gewachsenen Handlungsdrucks und der Dringlichkeit der Entscheidungen heute nicht mehr denkbar.

Zudem, so Schroeder, sei Scholz im Unterschied zu Merkel in deutlich höherem Maße bereit, ins Risiko zu gehen. Das zeige sich erstens daran, in welch kleinem Kreis er die Inhalte der Regierungserklärung beschlossen habe und zweitens daran, wie abrupt und in letzter Sekunde er angesichts der Krise in Osteuropa eine radikale Kehrtwende in der deutschen Außenpolitik eingeleitet habe. Insgesamt werde im Angesicht der Krise deutlich, dass in der Koalition das Gemeinschaftsgefühl wachse. Aber, sagt Schroeder, verhärte sich auch der Verdacht, dass Scholz große Entscheidungen alleine treffe und durchdrücke. Ein Stil, der zumindest punktuell auch von Merkel bekannt war. Sich nicht in die Karten schauen zu lassen, besonnen vorzugehen, um am Ende notwendige und machbare Entscheidungen zu treffen, auch das erinnert Schroeder an Merkels politischen Stil.

3. Ein neuer Koalitionsvertrag muss her

Mit dem Überfall auf die Ukraine hat die russische Regierung eine Krise ausgelöst, deren globale geopolitische Auswirkungen nach Einschätzung vieler Beobachter:innen selbst die der Anschläge vom 11. September 2001 übertreffen könnten. Wenige Stunden nach dem Beginn des Angriffs sagte Außenministerin Annalena Baerbock: “Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht”. Programmatisch ergibt sich daraus aber zwangsläufig das Problem, dass der Koalitionsvertrag, die Arbeitsgrundlage der Regierung, noch aus der alten Welt stammt.

“Ist der Koalitionsvertrag noch tragfähig für die neue geopolitische Lage?”, fragt sich auch Politikwissenschaftler Schroeder in der Debatte. Im Grunde sei die große Programmatik verdrängt worden von der Notwendigkeit, in der akuten Krise Handlungsfähigkeit herzustellen. “Heilige Kühe” hätten dabei alle drei Partner opfern müssen: Die SPD musste sich von Nord Stream 2 und ihrem Credo “Wandel durch Handel” verabschieden, die FDP stellt die Schuldenbremse zur Disposition und bei den Grünen wird öffentlich über Laufzeitverlängerungen für Kohlekraftwerke, zum Teil auch Atomkraftwerke nachgedacht. Schroeder ist sich sicher, dass die Regierung aufgrund der sich massiv geänderten Ausgangslage bald einen neuen Koalitionsvertrag brauche.

Als “überholt” bezeichnet das Papier auch seine Gesprächspartnerin Hildebrandt. Aber der Kern des Koalitionsvertrags, die ökologische Transformation, bekomme durch die aktuelle Krise eine völlig neue Begründungskraft. Denn der Gesellschaft werde plötzlich bewusst, in welche Gefahr sie sich durch die Abhängigkeit von fossilen Energien aus Russland begeben hätte. Habe sich bisher fast ausschließlich mit der drohenden Klimakatastrophe für die ökologische Transformation argumentieren können, so seien nun zwei schlagkräftige Argumente hinzugekommen, die den Prozess deutlich beschleunigen könnten: nämlich die nationale Sicherheit und den neuen Begriff von erneuerbaren Energien als “Freiheitsenergien”. Über dieses Narrativ könnten sich künftig Gesellschaftsgruppen gewinnen lassen, denen erneuerbare Energien zuvor nicht unbedingt ein überwältigendes Anliegen war. “Jedes Windrad ist ein Windrad gegen Putin, für die Freiheit”, benennt es Schroeder in diesem Kontext.

Aus Kreisen der Bundestagsfraktion wurde in der Debatte dazu Bereitschaft zum Neustart signalisiert. “Bilanz ziehen und Neustart ja – aber wir müssen uns vor allem fragen, in welche Richtung der Fortschritt gehen soll”, sagte ein MdB. Der Begriff der Transformation allein liefere noch kein Bild davon, wie die Zukunft konkret aussehen solle. “Es braucht Leit- und Zukunftsbilder, damit wir uns nicht in der Addition vieler kleiner Teilprojekte verlieren”.

4. Die soziale Frage ist zentral für die große Transformation

Wenn das Großprojekt ökologische Transformation überhaupt gelingen soll, müsse die Warnung gehört werden, die in der Allensbach-Umfrage stecke, so Schroeder. Mehr als 50 Prozent der Befragten befürchten, dass sich durch die Klimapolitik gesellschaftliche Verwerfungen verschärfen können. Bei Menschen in Ostdeutschland und Befragten mit niedrigem Einkommen ist dieser Anteil sogar noch höher. Das sind Erkenntnisse, die sich mit den Ergebnissen einer großangelegten qualitativen Studie des Progressiven Zentrums aus diesem Februar decken. Dazu hatten Interviewer:innen in strukturschwachen Regionen der Bundesrepublik mehr als 200 Interviews geführt. Eine der zentralen Erkenntnisse von “Die Übergangenen” war, dass es bei diesen Menschen ernsthafte Befürchtungen gibt, durch die Klimapolitik vor allem Nachteile zu erfahren.

“Die soziale Frage bestimmt über die Akzeptanz der ökologischen Transformation”, so Schroeder. Und er appelliert an die Regierungsparteien, die Ergebnisse dieser Umfrage ernst zu nehmen. Die nun notwendig gewordene Neuaufstellung der Koalition müsse in eine Struktur der sozialen Ausgleichspolitik eingebunden werden – mit allen fiskalpolitischen Konsequenzen. Zwischen Klimafrage, sozialer Frage und Demokratiefrage müsse austariert werden, warnt er. Dabei müsse die Regierung sich deutlich gezielter für wirklich bedürftige Menschen einsetzen und weniger auf Mittel setzen, die sozialselektiv nicht sensibel seien (Stichwort: “Gießkanne”).

“Es wird kein weiter so geben”, sagt Schroeder. Es werde eine komplett neue Agenda geben, die “bisher nur in Konturen erkennbar ist”. Wir stünden am Anfang einer Entwicklung, nicht am Ende. Insofern, das sagte Hildebrandt, sei die Regierungserklärung von Kanzler Scholz kein Höhepunkt einer Entwicklung, “sondern der Startschuss”.

Autor

Benjamin Lamoureux (geb. Konietzny) war Leiter der strategischen Kommunikation des Progressiven Zentrums.

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